Angela Schader, die Grande Dame der Literaturkritik, hat fast das halbe Leben beim NZZ Feuilleton gearbeitet. Ende Jahr tritt sie frühzeitig ihre Pensionierung an. Ein Porträt.
Nina Fargahi
Sie bezeichnet sich selbst als «Arbeiterin im Weinberg der Literatur». Fast das halbe Leben – 31 Jahre lang – hat Angela Schader für das Feuilleton der NZZ gearbeitet. Ihr Dossier erstreckte sich vom angelsächsischen Raum über die gesamte muslimische Welt bis zu Afrika und Israel. Mit einem gewissen Unbehagen habe sie beobachtet, wie ihr Zuständigkeitsbereich mit den Jahren immer grösser geworden sei. Sie hätte zwei Voraus-Leben gebraucht, um sich diese Gebiete literarisch und kulturell wirklich zu erschliessen: «Ich fühlte mich wie ein Strudelteig, der so dünn gezogen wird, dass er Löcher kriegt.» Und trotzdem schaffte sie es immer wieder, Autorinnen und Autoren weit weg vom Spotlight der westlichen Literaturszene dem hiesigen Publikum näher zu bringen.
Angela Schader sitzt am Küchentisch in ihrer eleganten Altbau-Wohnung im Zürcher Quartier Seefeld. «Schon ziemlich posh, passt nicht zu mir. Aber die Lage war unwiderstehlich», sagt sie. Im Flur, in der Stube, in der Küche – überall stehen volle Bücherregale. Ungefähr eine Tonne Bücher, schätzt sie.
Aufgewachsen ist Schader in der Stadt Zürich, die Mutter Musikerin, der Vater Architekt. Schon im Primarschulalter habe sie sich jeweils während der Mittagspause am Bücherregal ihrer Eltern zu schaffen gemacht. Dabei griff sie auch zu Büchern, die nicht für Kinder gedacht waren. Zum Beispiel die Werke von Carson McCullers. «Dort las ich zum ersten Mal über Rassismus, und obwohl ich damals nicht alles verstand, lagerten sich die Eindrücke sehr tief ein.» Dann, während dem Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich, ging sie mit ihrer Mutter für fast ein Jahr nach Jamaika, um bei einem lokalen Hilfsprojekt zu arbeiten. «Eine sehr prägende Zeit», so Schader. Sie hat dort die Fratze der Armut gesehen und hautnah erlebt, was sie mit Menschen macht. Erschüttert hat sie die Grosszügigkeit derer, die selbst kaum etwas haben.
Andere Kulturen vermochte sie stets auf eine nicht-exotisierende Art zu fassen
Zurück in Zürich, war sie nicht mehr die Gleiche. Fortan hatte sie ein geschärftes Bewusstsein für Ungerechtigkeiten, das in ihrer journalistischen Arbeit immer spürbar war. Andere Kulturen vermochte sie stets auf eine nicht-exotisierende Art zu fassen und genau deshalb waren ihre Texte so bereichernd. Denn im Anderen erkennt man immer auch das Eigene.
Nicht ohne politische Soundbites
Zur NZZ kam sie nach eigener Aussage wie die Jungfrau zum Kind. Zunächst besprach sie gelegentlich auf freier Basis Bücher für die damalige NZZ-Feuilletonredaktorin Beatrice von Matt. Dann folgte ein Volontariat und schon bald eine Festanstellung. Die Arbeit als Literaturjournalistin und Feuilletonredaktorin habe ihr viel Freude bereitet, vor allem das Entdecken von Autorinnen und Autoren. Für vieles andere fehlte dadurch allerdings die Zeit. Denn das Lesen fand ausserhalb der Bürozeiten statt. Und grössere Artikelprojekte habe sie meist nur in den Ferien realisieren können.
Auf die Medienschweiz angesprochen, wird Schader etwas nachdenklich. Literaturkritik, Buchrezensionen, das werde online nicht gelesen. «Meine meistgeklickte Besprechung online hatte im Titel das Wort Vergewaltigung.» Ungläubig schüttelt sie den Kopf. Auch beobachtet sie eine Tendenz, dass bei Interviews mit Autoren zunehmend politische Soundbites erwünscht sind und das künstlerische Schaffen der Befragten nicht mehr im Vordergrund steht. So müssten sich Literaturschaffende aus den USA stets auch zu Trump äussern, und natürlich stehe dieses Zitat dann in der Regel auch im Titel. «Im Grunde genommen eine unsinnige Entwicklung», so Schader.
«Leider wird der Boden für Freie immer karger»
Das NZZ-Feuilleton sei nicht immer politisch gewesen. Als sie angefangen habe, sei es noch ein reines Kultur-Feuilleton gewesen. «Unter Martin Meyer hat sich dann der Fokus erweitert, indem der internationalen Berichterstattung zu soziokulturellen Themen mehr Raum gegeben wurde.» In Deutschland, Grossbritannien, Frankreich, Österreich und dann auch in Amerika hatte die NZZ feste Kulturkorrespondentinnen und -korrespondenten, diese Stellen mussten aber im Zug der Sparmassnahmen mehrheitlich abgebaut werden. Heute ist das Feuilleton stark auf Debatten und Essays ausgerichtet.
«Beim Reinlesen muss ein Funke springen»
Schader spricht die Situation der freien Journalistinnen und Journalisten an. Ohne Mitarbeitende mit Sachwissen in spezifischen Gebieten wäre es nicht möglich gewesen, grosse Zuständigkeitsgebiete angemessen abzudecken. «Leider wird der Boden für Freie immer karger, die Honorare schrumpfen und Corona war nochmals ein massiver Einschnitt.» Ohne Freie verliere die Kulturberichterstattung an Breite und Tiefe; infolge der Sparmassnahmen auf den Redaktionen schwinde zudem der Raum, um Bücher aus kleineren Verlagen oder von weniger bekannten Autoren vorzustellen.
Ohnehin sei es unmöglich, die Übersicht zu behalten. Allein im deutschsprachigen Raum sind im letzten Jahr im Bereich Belletristik rund 22‘000 Bücher neu erschienen. Wie findet man in dieser Flut die Perlen? «Beim Reinlesen muss ein Funke springen.» Es gebe Bücher, da lese sie eine halbe Seite und wisse bereits, dass sie es besprechen wolle. Sie zählt einige ihrer Lieblingsautoren auf: Emily Dickinson, William Gaddis und Bachtyar Ali. Alle drei hätten erstklassige Literatur geschrieben, und sie hätten rein gar nichts miteinander gemeinsam. Der Funke, er springt also jedes Mal auf eine andere Art.
Nun verlässt Schader auf Ende Jahr die NZZ frühzeitig. Ihre Stelle wird nicht neu besetzt. Der Zeitung wird somit über Jahrzehnte aufgebaute Kompetenz verloren gehen. Doch nach so vielen Jahren sei sie «alles andere als unglücklich» über ihren baldigen Abschied.
Denkt sie daran, selbst ein Buch zu schreiben? Nein, niemals. «Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, die eintreffenden Rezensionsexemplare auszupacken – Aberhunderte von Büchern, von denen man wusste, dass nur ein kleiner Teil wahrgenommen werden kann.» Und mit Blick auf Herman Melvilles ikonische Figur ergänzt sie: «Da wird man zu einer Art Bartleby der Bücher.»
Beim Verlassen der Wohnung hallt nach, warum Schader die Dichterin Emily Dickinson so verehrt. «Weil sie die Fähigkeit hatte, Ungesagtes auf eine besondere Art wirken zu lassen.» Eine Aussage, die auch zu Schader passt.
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Ihnen wünsche ich alles Gute und danke Ihnen für Ihr Interesse an den Publikationen aus meinem Verlag.
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(Bemerkungen zur Entwicklung der NZZ unterlasse ich jetzt.)
Ich freue mich auf weitere Texte von Ihnen und wünsche Ihnen Alles Gute
Bernhard Küchenhoff
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02.12.2020