Vom journalistischen Umgang mit der Unschuldsvermutung.
Von Manuel Bertschi
Mit einer Recherche zeigte der «Tages-Anzeiger» unlängst die Überlastung des Schweizer Strafjustizsystems auf. Ein Grund für diesen Missstand ist die steigende Anzahl der Strafanzeigen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Medien entsprechend häufiger über Straffälle berichten werden. Bevor ein Urteil gefallen ist, geht es dabei um die Berichterstattung über den blossen Verdacht, dass eine Person eine Straftat begangen hat. Die Herausforderung bei dieser Verdachtsberichterstattung ist der Umgang mit der Unschuldsvermutung.
Jede Person gilt bis zum Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Auch Medien müssen dieser Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Das ist bundesgerichtlich längst anerkannt und auch explizit den Richtlinien des Presserats zu entnehmen. Medien müssen also öffentliche Vorverurteilungen unterlassen, damit ein zumindest indirekter Druck auf die verantwortlichen Justizbehörden vermieden und der Persönlichkeitsschutz der Betroffenen gewahrt wird. Oft ist bei der Verdachtsberichterstattung ein unzureichender Umgang mit der Unschuldsvermutung zu beobachten. Zum Beispiel wenn die Titelsetzung ohne Relativierung erfolgt.
Eine Floskel genügt nicht
Das Bundesgericht setzt hinsichtlich des medialen Umgangs mit der Unschuldsvermutung hohe Hürden. Konkret wird verlangt, «dass auch im Rahmen eines grösseren Artikels stets, das heisst an jeder Stelle, wo der Verdacht einer Straftat erwähnt wird, nur eine Formulierung zulässig sein kann, die hinreichend deutlich macht, dass es sich einstweilen nur um einen Verdacht handelt und dass eine abweichende Entscheidung des zuständigen Strafgerichts durchaus noch offen ist». Der vorzitierte Bundesgerichtsentscheid hisst im Ergebnis auch eine Warnflagge bezüglich des häufig verwendeten und bloss floskelartigen Hinweises auf die Unschuldsvermutung («Es gilt die Unschuldsvermutung»). Die Floskel ist ungenügend, wenn der mediale Inhalt vorverurteilend und die beschuldigte Person erkennbar ist.
Namensnennung als Ausnahme
Weitaus weniger scharf verläuft die Linie zwischen erlaubter und unerlaubter Namensnennung der beschuldigten Person. Im Grundsatz gilt, dass eine Namensnennung – und in der Konsequenz eine identifizierende Berichterstattung – zu unterlassen ist. Auch damit soll der Unschuldsvermutung und insbesondere der Privatsphäre des Beschuldigten Rechnung getragen werden. Als knifflig erweist sich die Rechtslage dort, wo Personen des öffentlichen Interesses betroffen sind. Eine Namensnennung ist auch dann nicht per se zulässig, sondern nur, sofern ein legitimes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit besteht. Und selbst wenn, ist dieses Informationsbedürfnis mit dem Recht des Betroffenen auf Achtung seiner Privatsphäre abzuwägen. Überwiegt Ersteres, kann eine Namensnennung im Rahmen einer Verdachtsberichterstattung gerechtfertigt sein. Etwa dann, wenn ein Verdacht auf eine Straftat im Zusammenhang mit der Amtstätigkeit eines Politikers oder einer Politikerin aufkommt.
Schwarzer Balken reicht nicht aus
Doch der Teufel liegt im Einzelfall: Da offenbaren sich regelmässig komplexe Abgrenzungsfragen. Wann ist eine Beschuldigte, ein Beschuldigter eine öffentliche Person? Überwiegt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit oder der Persönlichkeitsschutz des Betroffenen? Auch bei der Kombination von anderen Identitätsmerkmalen wie Alter und Wohnort oder bei Fotos der Beschuldigten ist Vorsicht geboten. Es ist eine weit verbreitete Irrmeinung, dass ein die Augen verdeckender Balken zur Anonymisierung genüge. Die Unschuldsvermutung wiegt in der Regel schwerer als der Wunsch, die Neugier des Publikums zu befriedigen.
Die Vorgaben zum korrekten medialen Umgang mit der Unschuldsvermutung sind also streng. Die sprachliche Begabung und der Sinn für Semantik sollten es Medienschaffenden dennoch ermöglichen, sich im aufgezeigten Rahmen souverän(er) zu bewegen. Als Stütze für künftige Verdachtsberichterstattungen und als abschliessendes Resümee des Vorbeschriebenen mag die folgende Checkliste dienen:
- Ein Verdacht auf eine Straftat ist durchgehend als solcher zu beschreiben.
- Auch aus der Titelsetzung muss hervorgehen, dass vorerst bloss ein Verdacht auf eine Straftat vorliegt.
- Soweit der Beschuldigte keine Person des öffentlichen Interesses ist, muss auf eine Namensnennung verzichtet werden.
- Soweit der Beschuldigte eine Person des öffentlichen Interesses ist, kann die Namensnennung gerechtfertigt sein, etwa wenn der Strafvorwurf im Zusammenhang zur Tätigkeit steht, weshalb der Beschuldigte in der Öffentlichkeit steht.
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