Aktuell – 12.03.2018

Die «vier Worte des Grauens»

Ein wichtiger Mann war gestorben. Ein Vertreter der zeitgenössischen klassischen Musik. Ein ganz Grosser offenbar. Auf jeden Fall einer, den man kennen musste. Das wurde mir klar, als ich an dem Tag vor vielen Jahren als SRF-Neuling am gros­sen Tisch sass – Redaktionskonferenz – und meine zahlreichen Kollegen ansah. In den Gesichtern spiegelte sich Bedauern ob des gewichtigen Verlustes. In meinem Gesicht, so vermute ich, spiegelte sich bange Ahnungslosigkeit. Ich hatte noch nie von dem wichtigen Mann gehört.

«Cimmino! Wissenslücke!» hörte ich mich selber schelten. Einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, ebenfalls wichtig dreinzuschauen und was von «Oh, wie schade, so ein ­Verlust» zu murmeln. Ich verwarf die Schummelei-Idee und fasste mir ein Herz: «Entschul­digung die Frage, aber: Wer war das? Ich weiss es nicht.» Da. Ich hatte sie gesagt. Die vier Worte des Grauens.

Nach der Redaktionssitzung raunte mir der anwesende Produzent von «Echo der Zeit» ­(welches mir damals als mögliches Karriereziel so weit weg vorkam wie die Erde von der nächsten Galaxie) zu: «Bin froh, hast DU gefragt. Ich kannte den auch nicht.» Er hatte drei Minuten vorher noch wissend und betrübt genickt.

Eine hübsche Anekdote, gewiss. Aber ein typisches Beispiel. Ich erlebe das oft und nehme mich auch an der eigenen Nase. Es macht den Anschein, als dürften sich Journalisten keine Blösse geben. Als müssten sie Bescheid wissen, immer.

Die geopolitischen Verschiebungen in den letzten Jahren? Klarer Fall. Die bahnbrechende medizinische Entdeckung? Eben erst einen Podcast dazu gehört. Das neuste Buch von Peter Stamm? Es ist zwar noch im Druck, aber ich hab schon meine Meinung dazu. Been there, done that.

Was ist denn so falsch daran, etwas (noch) nicht zu wissen, jemanden nicht zu kennen? Ist es nicht gerade unser Privileg, in ganz vielen Bereichen verdammte Anfängerinnen und ­Anfänger zu sein, und mehr oder weniger gescheite Fragen stellen zu dürfen, um das zu ­ändern? Wie oft stellen wir gewisse Fragen nur, weil wir denken, dass man sie stellen muss (schliesslich lesen und hören und schauen die gescheiten Berufskolleginnen und -kollegen mit). Und wie oft stellen wir Fragen nicht, weil wir uns nicht getrauen oder dafür schämen?

Im Dokumentarfilm «Die vierte Gewalt» von Dieter Fahrer sagt der Berner Journalist Marc Lettau sinngemäss, Journalismus sei der einzige Beruf, wo man ein bekennender Nichtwisser sein dürfe. In den zwanzig Jahren, in denen ich nun Journalistin bin, habe ich realisiert: Paradoxerweise sind die Journalisten, die mit einer solchen Demut an die Arbeit gehen, auch die, die in der Regel sehr viel wissen.

Mich dünkt, der Satz «Ich weiss es nicht» ist das grösste Geschenk, das wir uns selber machen können. Er ist der Freipass, um ganz viele, ganz harte Fragen zu stellen. Die Mediziner schwören den Eid des Hippokrates. Wir Journalistinnen und Journalisten haben auch ­unseren Eid, er ist viel kürzer und hat damit sogar Twitterlänge: «Ich weiss es nicht».

Autorin:
Nicoletta Cimmino, Journalistin beim «Echo der Zeit»

3 Kommentare

#1

Von Susanne Hosang
14.03.2018
Genau. Auf den Punkt gebracht. Gerade weil wir es nicht wissen, fragen wir das Richtige und bauen damit an der Brücke des Verständnisses.
Je länger ich diesen Beruf ausübe desto mehr wird mir klar, dass wir bald die Einzigen sind, die sich noch trauen, auch unbequeme, Fragen zu stellen.

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