Hannes Grassegger will mit seinem Polaris-Team ein Nachbarschafts-News-Netzwerk schaffen. Zuvor hat er versucht, eine gemeinsame Plattform der Schweizer Medien anzustossen.
Interview Bettina Büsser
Ein «GA für News» forderte Hannes Grassegger 2019 in einem Aufruf. Er plädierte dafür, ein «öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk» einzurichten, auf dem sich die Inhalte der Schweizer Medien finden. Die Idee stiess auf viel Interesse. Danach bildete Grassegger das Team Polaris – «eine Referenz an den Nordstern, der bei der Orientierung hilft», wie er sagt – und diskutierte den Ansatz unter anderem mit Schweizer Medienunternehmen. Das Resultat: «Die Schweizer Medienbranche ist aus zahlreichen Gründen nicht bereit.» Nun lanciert das Polaris-Team ein Netzwerk mit neuem Ansatz, Pool.
EDITO: Pool soll ein Nachbarschafts-News-Netzwerk werden. Was ist damit gemeint?
Hannes Grassegger: Pool gibt Menschen die Möglichkeit, sich über ihre eigene Umgebung, ihre Nachbarschaft, zuverlässig zu informieren. Die App liefert faktenbasierte Nahinformationen und hilft, selber echte News zu erstellen und vor Ort zu teilen. Wir gehen damit in einen spannenden Raum. Hier gibt es fast keinen Journalismus, dabei ist doch das, was dir am nächsten liegt, für dich am relevantesten.
In eurer Beschreibung steht, Pool mache es «Vereinen, Schulen, Kirchen oder Clubs einfach, ihre News zu den richtigen Personen zu bringen». Das ist nicht journalistisch, oder?
Es gibt drei Quellen. Die primäre Quelle sind Individuen, Nachbarn, die selber mithilfe eines Assistenzsystems und eines Verifikationsprozesses News verfassen. Das sind die Nachbarschafts-News. Den zweiten Stream bilden Open Data von Behörden und Privaten, die wir zugänglich machen wollen. Informationen wie Pollenflug, Nahverkehr, Bauvorhaben. Der dritte Stream kommt aus der Zivilgesellschaft: Vereine, Schulen, Behörden und vielleicht auch Parteien und Geschäfte.
Wie entstehen diese Nachbarschafts-News?
Unsere News sind kurze Meldungen nach journalistischen Prinzipien. Sie entstehen mit dem geführten Assistenzsystem Reporter. Zuerst wählst du den Themenbereich. Dann spricht ein Chatbot mit dir und stellt Fragen, die jede Journalistin, jeder Journalist sofort erkennt: die sieben W – Wer? Was? Wo? Wann? und so weiter. Wir nutzen also die journalistischen Prinzipien, die Regeln des Pressekodexes. Daraus folgt ein Textvorschlag.
«Pool lässt die Leute über den Bereich berichten, in dem sie handlungsfähig sind.»
Die W-Fragen sind unsere erste Mauer gegen Desinformation. Als zweiter Schritt folgt ein Verifikationsprozess. Der Text wird von Community-Mitgliedern gegengelesen. Es gilt also ein Vier-Augen-Prinzip. Der Vorgang ist transparent. Wie bei Wikimedia /Wikipedia: Es gibt eine Art Verein, der die Software betreibt und mit den Nutzern die Community-Standards entwickelt. Die Inhalte kommen aus der Community. Wir sind kein Medium.
Wird Pool nicht trotzdem eine Konkurrenz für lokale Medien?
Im Gegenteil. Pool liefert Themenideen. Unsere News-Meldungen funktionieren unterhalb des Lokalmedien-Niveaus. Pool ist im Austausch mit Lokalmedien entstanden. Sie haben uns gesagt, dass es für sie zu teuer wäre, so granular und mit solchen Mitmach-Prinzipien zu arbeiten.
Das Polaris-Team hat ursprünglich die Mission einer gemeinsamen Plattform der Schweizer Medien verfolgt. In Gesprächen mit Verlegerinnen und Verlegern hat sich aber gezeigt, dass diese aus ideologischen wie ökonomischen Gründen kein Interesse daran haben. Sie bevorzugen die Konkurrenz gegenüber der Kooperation.
Keine Chance für eine Zusammenarbeit der Medien?
Wir haben Interesse und Gesprächsbereitschaft erlebt. Das fand ich super. Aber es würde unseren Projektrahmen sprengen, wenn wir eine Art Round Table für miteinander konkurrierende und zum Teil zerstrittene, in persönlichen Fehden stehende Verlagshäuser organisieren würden. Unser Kernvorhaben ist ein anderes, und das ergab sich auch aus vielen Gesprächen, Diskussionen, und breiteren Befragungen in der Bevölkerung: Die Menschen wollen verlässliche, nützliche digitale News und sie auf einfache Weise zugestellt bekommen. Dabei wollen wir helfen
Ihr habt eine nationale Medienplattform angestrebt – eine grosse Geste. Und jetzt ist es quasi auf ein granulares, lokales Ding zusammengeschrumpft.
Wenn du dein Leben vor Ort als kleiner betrachtest als das nationale News-Geschehen, missverstehst du journalistisch etwas. Du denkst aus einem alten Industriekontext heraus, wo man grosse Themen bevorzugt, weil man grosse Mengen von Leuten erreichen muss, um so ein Papier zu finanzieren. Nähe zählt, das ist das erste Axiom im Journalismus: Location matters.
Wir glauben, dass wir uns auf zwei Ebenen in einem superinnovativen Bereich bewegen. Erstens: Die Frustration vieler Leute mit dem Journalismus, also diese News Avoidance, hängt auch damit zusammen, dass sie keine Handlungsfähigkeit haben. Ich lese über Klimakatastrophen, kann nichts machen und fühle mich zerstört. Pool lässt die Leute über den Bereich berichten, in dem sie handlungsfähig sind, eingreifen, abstimmen können.
«Die Menschen wollen verlässliche, nützliche digitale News und sie auf einfache Weise zugestellt bekommen.»
Zweitens geht es bei der bisherigen Debatte über Medienfinanzierung um die Erhaltung einer Industriestruktur. Bei uns geht es um die Erhaltung von etwas, was ich als Bürger und als Mensch brauche: verlässliche Information. Um verlässliche Information herzustellen, gibt es die Presseregeln, geniale Standards, die wir nutzen.
Ihr setzt journalistische Prinzipien um, aber der professionelle Journalismus findet nicht bei euch statt.
In der ersten Phase ist das so. Längerfristig hoffen wir, dass Pool auch für grosse journalistische Inhalte ein Distributionsmechanismus werden kann. Es wird allerdings noch ein paar Jahre dauern.
Die App hilft Nutzern aber, den Wert von echtem Journalismus zu erkennen: Dadurch, dass sie bei Reporter die sieben W-Fragen abfragt, verstehen die Nutzerinnen und Nutzer, dass es kein Journalismus ist, wenn man einfach irgendetwas postet, sondern dass Journalismus auf einem Regelkatalog und damit auf Arbeit beruht, die viel wert ist.
Ihr sucht ja jetzt in einem ersten Schritt drei Testregionen.
Als erste Testregion hat die Stadt Zug zugesagt, in Genf und im Kanton Bern führen wir Gespräche. Aus dem Tessin kam ebenfalls Interesse.
Wann und wie soll es nach den Tests weitergehen?
Wir testen die Software in den drei Regionen ab dem Spätherbst. Danach sollen landesweit solche lokalen Spaces entstehen. Wenn sie entwickelt sind – das geht wohl zwei, drei Jahre –, verknüpfen sie sich zu einer Art landesweitem dezentralem Informationsraum. Es ist überall dieselbe Software, also können die Informationen zwischen verschiedenen Orten fliessen.
Wie finanziert sich Pool und wie soll es sich künftig finanzieren?
Der Migros-Pionierfonds und die Stiftung Mercator Schweiz helfen uns auszutesten, ob das Produkt bei den Leuten ankommt. Die künftige Finanzierung ist noch offen. Denkbar wäre – eine teilweise Finanzierung als Service public –, dass Gemeinden einen Beitrag leisten. Oder lokale Shops, die zu klein sind für Werbung im Lokalblatt oder bei Instagram.
Grundsätzlich sehen wir Pool als Infrastruktur. Falls die Bevölkerung in unseren Pilotregionen Pool schätzt, hätten wir eine Berechtigung, aus dem Geldtopf finanziert zu werden, aus dem die SRG/SSR und regionale Radio- und TV-Stationen unterstützt werden. Auch an eine Kooperation lässt sich denken. Die SRG/SSR hat ja gerade bekannt gegeben, dass Gilles Marchand an öffentlichen sozialen Plattformen forschen lässt.
Gibt es bei Pool auch Kommentarfunktionen?
Nein, nein, nein. Konversation sollte nicht von einer öffentlichen Institution reguliert werden – und wir denken, wir sind eine künftige öffentliche Infrastruktur. Social Networks und Messenger sind gut für privaten Austausch. So wie Bars, Kaffeehäuser und so weiter. Social Networks und Messenger sind aber nicht gut für die News. Was wir brauchen, ist ein zuverlässiger digitaler Ort für News. Damit beginnen wir. Vor Ort.
Das Gespräch fand am 6. Februar 2023 statt.
–
Hannes Grassegger arbeitet zurzeit für Das Magazin und für Polaris. Er ist investigativer Reporter mit den Fachgebieten Wirtschaft und Technologie und recherchierte unter anderem den CambridgeAnalytica-Fall. Pool wurde entworfen vom Konzept-Team Polaris, bestehend aus Hannes Grassegger (Director), Allison Crank (Design Lead) UX-Designerin und Forscherin, Lorenz Matzat (Project Lead), Datenjournalist und Mitgründer von Algorithm-Watch, Oliver Reichenstein (Product Strategist), App-Designer, Malka Older (Governance Researcher), Soziologin, und Jonathan Progin (Project Assistant), Journalist. Zurzeit rekrutiert Polaris das Produkt-Team für den Launch.
Bettina Büsser
Redaktorin EDITO
Ihr Kommentar