Aktuell – 26.09.2022

«Du hast den Athletinnen gegenüber eine ganz spezielle Verantwortung»

Sie deckten mit ihren Recherchen Missstände im Sport auf: die beiden Magazin-Journalisten, welche die Magglingen-Protokolle veröffentlichten, und die beiden Journalistinnen von SRF Investigativ, die über die Zustände im Synchronschwimmen berichteten. Wie geht eine solche Recherche vor sich? Wie reagieren die Verbände? Und was ist im Sport anders als in anderen Bereichen?

Von Bettina Büsser

Christof Gertsch war Sportjournalist und schrieb 2007 für die NZZ am Sonntag erstmals über die Kunstturnerin Ariella Kaeslin: Wie sie und ihre Kolleginnen sich gegen einen Nationaltrainer wehrten, der die Turnerinnen schlecht behandelte. «Das war das erste Mal in der Schweiz und vielleicht sogar weltweit, dass man öffentlich wahrnahm, dass im Kunstturnen vielleicht etwas nicht gut ist», sagt Gertsch: «Aber es wurde als Einzelfall behandelt.»

2011, nach ihrem Rücktritt, begegnete Gertsch Kaeslin wieder und schlug ihr vor, ein Buch über sie zu schreiben, denn: «Ein Jahr vor den Olympischen Spielen trittst du nicht ohne wirklich guten Grund zurück.» Kaeslin lehnte ab, meldete sich aber 2013 wieder bei Gertsch. Dieser schrieb schliesslich mit ­seinem Kollegen Benjamin Steffen die Kaeslin-Biografie, die 2015 erschien. «Eigentlich enthält sie bereits alles, was in den Magglingen-Protokollen steht», sagt Gertsch, «vielleicht nicht so drastisch – und vor allem ist es wieder ein Einzelfall.»

2020 schilderte eine Turnerin der Rhythmische Sportgymnastik anonym ihr Leiden in einem Blick-Artikel. Wieder gab es zwar Reaktionen im entsprechenden Verband, doch wieder wurde die Geschichte als Einzelfall behandelt. Gertsch, der mittlerweile beim Magazin arbeitete, gab dies den Anstoss zu weiteren Recherchen, gemeinsam mit seinem Magazin-Kollegen Mikael Krogerus: «Wir wollten schauen, ob sich das System, das gesamtgesellschaft­liche Problem hinter diesen Einzelfällen zeigen lässt.»

Ariella Kaeslin verschaffte den beiden Kontakte zu ehe­maligen und aktiven Turnerinnen und Gymnastinnen, die im ­Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbandes in Magglingen trainiert hatten oder noch trainierten. Von diesen erhielten sie weitere Tipps für mögliche Kontakte. Schliesslich gaben ­ihnen 14 Frauen Auskunft, acht davon standen mit Namen und Bild zu ihren Aussagen.

Schutz der Informantinnen. «Meine Frau ist Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, sie hat uns beraten, wie wir in diese Gespräche gehen sollen», sagt Gertsch. So haben die ­beiden Journalisten darauf geachtet, dass die Athletinnen bei ­Interviews immer in Begleitung waren, und liessen sie den ­ganzen Text gegenlesen. Krogerus und Gertsch haben sich mit den Athletinnen auch auf den Tag der Publikation vorbereitet: «Wir hatten keine Ahnung, dass es so gross wird, aber wir rechneten damit, dass es einschlägt. Wir haben geschaut, dass keine von ihnen an diesem Tag allein ist, und waren jederzeit für sie erreichbar.»

«Du musst Vertrauen schaffen und gleichzeitig die journalistische Distanz wahren.»
Maj-Britt Horlacher, SRF Investigativ

Der Schutz der jungen Informantinnen war Gertsch und ­Krogerus wichtig – dasselbe gilt für Nina Blaser und Maj-Britt Horlacher von SRF Investigativ. Sie realisierten die Beiträge über Missstände im Synchronschwimmen, die Radio und Fernsehen SRF im Juni dieses Jahres ausgestrahlt hat. «Du hast den Athletinnen gegenüber eine ganz spezielle Verantwortung», sagt ­Blaser. Bei anderen Recherchen, so die beiden Journalistinnen, hätten sie es oft mit mediengewandten Profis zu tun, «bei den Synchronschwimmerinnen handelte es sich um junge, zum Teil noch minderjährige Frauen, die etwas aufarbeiten, vielleicht ­sogar eine Art Retraumatisierung erleben. Und die im Gegensatz zu anderen Personen, mit denen wir es zu tun haben, nicht ­wissen, wie Medien funktionieren.»

Blaser und Horlacher haben die Synchronschwimmerinnen deswegen «immer wieder informiert, wie wir arbeiten», haben bei Drehterminen auf Prüfungstermine und Wettkämpfe Rücksicht genommen, «weil wir wissen, dass so ein Interview aufwühlt», und haben die Athletinnen auf die Publikation vorbe­reitet, «denn es war klar, dass es eine grosse Sache wird». Mit den Schwimmerinnen – auch jenen, die anonym bleiben wollten – haben sie darüber gesprochen, welche Konsequenzen ihre Aussagen haben könnten. «Im Synchronschwimmen kennen sich alle, sie mussten darauf vertrauen können, dass nie jemand ­erfährt, dass sie mit uns gesprochen haben», sagt Horlacher. ­«Du musst also Vertrauen schaffen und gleichzeitig die journalistische Distanz wahren.»

Die beiden Investigativjournalistinnen hatten das Thema ­aufgegriffen, weil sich mehrere Personen unabhängig voneinander bei SRF gemeldet und über Missstände berichtet hatten. ­Sie recherchierten bei den Athletinnen, bei Sportpsychologinnen und Mental Coaches. Und ihnen wurden interne Dokumente von Swiss Aquatics, dem Schweizer Schwimmverband, zugespielt, die belegten, dass der Verband schon länger von den Problemen wusste.

«Wir wollten schauen, ob sich das System hinter diesen ‹Einzelfällen› zeigen lässt.»
C
hristof Gertsch, Das Magazin

Als sie ihren ausführlichen Fragenkatalog an verschiedene Verantwortliche des Verbands einreichten, traten die beiden ­­für das Synchronschwimmen zuständigen Co-Sportdirektoren ­zurück – und schwiegen. Auch weitere Angefragte, etwa ­Trainerinnen, nahmen keine Stellung. Doch der Verband beantwortete die vielen Fragen schriftlich, ausserdem nahm Co-Präsident Ewen Cameron Stellung vor der Kamera. «Swiss Aquatics hat recht professionell reagiert», sagt Blaser. Horlacher geht ­davon aus, dass die Magglingen-Protokolle und die Reaktionen darauf einen gewissen Einfluss auf das Verhalten des Verbands hatten: «Es gibt heute einen gesellschaftlichen Konsens, dass ­solche Zustände nicht akzeptabel sind. Dessen waren sich die Verantwortlichen bewusst.»

Tatsächlich hat die Publikation der Magglingen-Protokolle im Herbst 2020 sehr grosses Aufsehen erregt. Die für Sport zu­ständige Bundesrätin, Viola Amherd, meldete sich zu Wort, ­verurteilte die Zustände, liess drei Berichte erstellen und führte verschiedene Massnahmen ein. Und beim Schweizerischen Turnverband kam es zu Entlassungen, Rücktritten und einer Neuorganisation.

Misstrauen bei Sportverbänden. Davon war noch keine Rede, als Christof Gertsch und Mikael Krogerus den Turn­verband, das Bundesamt für Sport (BASPO) und den Sportdachverband Swiss Olympic mit den Ergebnissen ihrer Magglingen-Recherchen konfrontierten. Die Reaktionen seien «erschütternd enttäuschend» gewesen, sagt Gertsch. Viele Konfrontierte ­hätten total abgeblockt. Der Turnverband habe «nur zum Teil» Stellung genommen, beim BASPO hätten die beiden Journalisten ausschliesslich mit dem Direktor, Matthias Remund, sprechen dürfen, und bei Swiss Olympic sei die Reaktion ab­lehnend bis «geht uns nichts an» gewesen. «Erst nach der Reaktion von Viola Amherd haben alle gesagt: Wir müssen über die Bücher.»

«Es war klar, dass es eine grosse Sache wird.»
Nina Blaser, SRF Investigativ

Bei anderen Sportverbänden, davon ist Gertsch überzeugt, hätte man ähnlich auf Recherchen zu Missständen reagiert: «Der Schwimmverband hat bei den Fragen von SRF Investigativ ja auch eher abgewiegelt.» Das liege einerseits an der Struktur der Verbände, andererseits daran, dass sie noch weniger als ­andere Organisationen an Investigativjournalismus gewöhnt seien: «Sportjournalistinnen haben früher kaum solche Recherchen gemacht. Das kam erst mit der Generation, die über ­Doping im Radsport berichtet hat. Solche Journalisten galten damals bei Verbänden, Teams und Athleten und sogar bei anderen Sportjournalisten als Nestbeschmutzer.»

Ähnliche Reaktionen auf kritische Fragen gibt es laut Gertsch heute noch, gerade bei Sportarten, in denen es um viel Geld geht, etwa im Fussball. Allerdings komme der Nestbeschmutzer-Vorwurf heute nicht mehr von anderen Sportjournalistinnen und -journalisten: «Es gibt bei ihnen ein Bewusstsein für die problematischen Seiten des Sports. Menschenrechte in Katar oder Misshandlungen im Kunstturnen sind Themen.» Doch investigativer Journalismus sei im Sport nach wie vor rar – weltweit.

Das liegt nach Gertschs Einschätzung auch daran, dass auf verschiedenen Redaktionen auch in den Sportressorts Stellen abgebaut wurden, die Journalistinnen und Journalisten aber nach wie vor alle Ansprüche in der reinen Berichterstattung ­erfüllen müssen. Es mangelt also an Zeit für Recherchen: «Vielleicht ist es kein Zufall, dass es SRF Investigativ und nicht die Sportredaktion war, die die Geschichte über die Synchronschwimmerinnen recherchiert hat.»

Bettina Büsser

Redaktorin EDITO

1 Kommentar

Ihr Kommentar

Bitte füllen Sie alle Felder aus.
Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

* = erforderlich

Sicherheitscode *