"Flüchtlinge an den Grenzen, Terror in Paris, Übergriffe in Köln, Hassbotschaften im Internet: Was kann, was soll, was muss Qualitätsjournalismus tun?"
Unter diesem Titel hat der ORF in seiner Reihe "Texte" die Nummer 16 zum Thema "Flucht und Qualitätsjournalismus" herausgebracht. Unter den 18 Beiträgen ist auch der Beitrag "Gegenfragen zum Meinungstrend" von EDITO-Redaktor Philipp Cueni zu finden.
Folgend der Text von Cueni (und unten der Link zu allen 18 Beiträgen in "ORF-Texte")
Gegenfragen zum Meinungstrend
Warum gerade in ausserordentlichen Lagen mediale Normalität gefragt ist. Ein Beitrag zu einer internationalen Bestandesaufnahme aus der Optik Schweiz. Von Philipp Cueni
Nein, die Schweiz ist keine Insel. Zwar steht sie nicht gleich stark unter Druck der aktuellen Flüchtlingsbewegungen wie exponiertere Länder. Aber auch hier gibt es deutlich mehr Asylanträge als jeweils in den letzten 15 Jahren, gilt es, mehr Flüchtlinge als üblich unterzubringen – mit zum Teil heftigen Diskussionen in jenen Orten, wo neue Unterkünfte für Asylsuchende eingerichtet werden. Die Medien berichten über Zirkel in unserem Land, welche gemäss Recherchen nahe am IS operieren. In einem demnächst bevorstehenden Gerichtsverfahren lauten die Anklagepunkte auf IS-Mitgliedschaft und -Unterstützung. Demnächst wird über eine Volksinitiative abgestimmt, welche straffällige AusländerInnen in der Schweiz, inklusive solche, die hier geboren sind, sofort ausweisen will – auch bei Bagatellvergehen. Auch in der Schweiz wird heftig über die Fragen diskutiert, was die neue Flüchtlingsbewegung mit dem Islam und letztlich mit dem Terrorismus zu tun habe. Und natürlich auch darüber, ob und wie die Grenze gegenüber Flüchtlingen geschlossen werden soll.
Die Medien sind mit dieser besonderen Lage bisher eher gelassen umgegangen. Eigentliche Hetze gibt es kaum. Auch bei jenen Medien, welche gegenüber den Flüchtlingen und dem Islam eher abwehrend orientiert sind, sind Reportagen zu lesen, welche Empathie gegenüber den Immigranten wecken: über die Qualen eines Migranten auf seiner langen Fluchtroute oder über integrative Aktivitäten eines kleinen Fussballclubs mit jungen Eritreern aus dem Flüchtlingsheim. Eine Erklärung dieses weniger zugespitzten Diskurses liegt sicher in den Mechanismen der direkten Demokratie, die auch bei populistischen Initiativen tabuisierte Themen zur öffentlichen Debatte bringt und damit auch eine gewisse Ventilfunktion hat.
Mediale Normalität? Ja, die Flüchtlingsfrage und der IS-Terrorismus als Krisen neben anderen – zum Beispiel die Klimasituation, die verschuldeten Staaten mit zunehmender Armut, die Kriegssituation in der Ukraine, in Syrien und auf der arabischen Halbinsel. Nur bedingt, denn die Flüchtlingsfrage hat sich in der öffentlichen Debatte mit dem Thema Terrorismus und seit der Silvesternacht in Köln mit anderen Bedrohungsszenarien vermischt. Und diese Themen emotionalisieren in der breiten Bevölkerung offenbar mehr als andere. So gesehen stehen Europa und die Schweiz vor einer besonderen Herausforderung.
Und deshalb stellt sich die Frage, wie der Journalismus damit umgehen soll.
Meine erste Antwort: Mit Normalität. Natürlich hat der Journalismus die Aufgabe in ausserordentlichen Situationen, gerade zu jenen Themen, welche die Bevölkerung beschäftigen, wenn gesellschaftliche Reibung auszumachen ist, Sonderleistungen zu bieten:
Kapazitäten aufs Thema konzentrieren, noch genauer als sonst hinsehen, kritisch analysieren, Hintergründe und Erklärungen liefern – und nüchtern bleiben. Aber auch das ist das Normalität, weil dies alles zu den üblichen Qualitäten des Journalismus gehören sollte. Zu diesem Berufsalltag gehört aber auch, einzelne dieser Qualitäten immer mal wieder zu problematisieren. In dieser Situation etwa die Anforderung nach nüchterner Distanz.
Michel Jeanneret, Chefredaktor von L’illustré in der Westschweiz, sagt in einer Betrachtung zur Berichterstattung über die Flüchtlingskrise: «Wer den Wind verstärkt, arbeitet schlecht.» So einfach, aber richtig ist das.
Es gehört zu unseren Aufgaben, Gegenfragen zum vorherrschenden Meinungstrend zu stellen. Zu warnen, wenn etwas tabuisiert oder verteufelt wird. Und ja, durchaus auch die Skeptiker-Rolle zu übernehmen und so vor möglichen Problemen nüchtern zu warnen, falls der Wind allzu euphoristisch blasen sollte. Mit dem Angebot von erklärenden Hintergründen soll das Publikum die Möglichkeit erhalten, sich an Fakten statt Emotionen zu orientieren. "Das Publikum zu Verstehenden machen", wie es der Medienethiker Hermann Boventer so pointiert formuliert hat.
Gerade das Angebot von komplexen Erklärungsstücken sei eine Voraussetzung, um in der demokratischen Debatte differenzierte Lösungswege prüfen zu können und populistische Lösungen zu verhindern. Solche populistischen Vereinfachungen würden sich aber oft an oberflächlichen und vereinfachenden Schlagzeilen und Kurznews orientieren Das ist das Credo des im letzten Jahr verstorbenen Mediensoziologen Kurt Imhof. Ich halte es für richtig. Imhof appellierte deshalb auch an die Politik und die Medienunternehmen, die Mittel für den dafür notwendigen journalistischen Aufwand bereitzustellen – als gesellschaftliche Aufgabe zur Qualitätssicherung der Demokratie.
"Zum Verstehen beitragen" – zwei weitere journalistische Qualitäten scheinen mir in dieser Situation besonders wichtig.
Die Medien haben einen Integrationsauftrag. Nicht die Ausgrenzung, sondern die Verständigung ist das Ziel. Das kann durchaus heissen, gegen Diskriminierung, Angstmacherei und Hass Stellung zu beziehen. Dennoch müssen die Medien fähig sein, auch das gehört zum Integrationsauftrag, einen Dialog gegenüber den Absendern solcher unschöner Botschaften aufrechtzuerhalten.
Zum Zweiten: Journalismus soll gegenüber der Situation der Flüchtlinge durchaus auch Empathie vermitteln dürfen. Auch das kann zum Verstehen beitragen. Das schliesst aber mit ein, nichts auszublenden, auch das Schwierige und die dunklen Seiten nicht.
Es geht immer um den vertieften und nüchternen Blick aufs Ganze. Auf Dauer zahlt sich nur dies aus – journalistisch und gesellschaftlich.
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