Aktuell – 19.12.2022

«Freie tragen das wirtschaft­liche Risiko selbst»

Michel Bührer ist Präsident der Freien Journalistinnen und Journalisten der Romandie (Journalistes libres romands, JLR). Schon oft dachte er daran, den Bettel hinzuschmeissen – jetzt freut er sich, dass die Vereinigung wieder Zuwachs erhält.

Interview von Jean-Luc Wenger

EDITO: Wie viele Journalistinnen und Journalisten sind Mitglied bei  JLR?

Michel Bührer: Die Arbeitsgruppe der JLR von impressum zählt mehr als 300 Mitglieder. Das Register wird von der Berufsorganisation in Freiburg geführt. Natürlich kommt es aber vor, dass Freie vergessen, ihre Statusänderung bei ­impressum zu melden. Jemand, der eine Anstellung findet oder den Job an den Nagel hängt, macht nicht immer eine Meldung. Deshalb ist die Mitgliederzahl nicht unbedingt ­exakt.

Was hat sich im Beruf in den letzten Jahren verändert?

Wir stellen nicht nur einen Rückgang beim Einkommen fest, sondern auch eine Verschlechterung der Arbeitsbeziehung zwischen Freien und den Verlagen. Ich höre immer wieder, dass eine Zeitung ein JLR-Mitglied beauftragt, einen Artikel zu schreiben, der Text dann in einer Schublade verschwindet und nicht erscheint. Solche Erzählungen sind nicht selten. Und bezahlt wird am Ende natürlich nicht …

Sind Freie auch mitschuldig an dieser Situation?

Teilweise, ja. Weil sie es nicht wagen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Zu oft sind die Arbeitsbedingungen unwürdig, die Aufträge unanständig. Doch es liegt nicht an mir, zu entscheiden, was richtig ist. Alle sind für sich selbst verantwortlich. Das Problem ist, dass einige bereit sind, unterhalb der im GAV festgelegten Mindesttarife zu arbeiten. Wenn sie dazu bereit sind, dann weil sie davon leben wollen und ihren Job lieben.

Ich gebe am Centre de formation au journalisme et aux médias (CFJM) eine Vorlesung mit dem Titel «Freelance: sich verkaufen, sich verteidigen». Es ist schwierig, den Studierenden zu sagen: «Stürzt euch in das Metier, es ist genial!» Entmutigen will ich sie aber auch nicht. Ich halte diese Berufsgattung für unverzichtbar, schon nur, weil die Redaktionen auf Freie angewiesen sind.

Welche Rolle spielen die Verlage bei den sinkenden Tarifen?

Aus meiner Sicht nützen die Verlage ihre Machtposition aus, weil sie ganz genau wissen, dass die Freien ihren Beruf ­lieben und zu Zugeständnissen bereit sind. Zurzeit befinden wir uns aber betreffend Honorare in einer Abwärts­spirale. Die Verleger haben sich daran gewöhnt, dass sie diese nach unten anpassen können.

Gemeinsam mit impressum haben wir mit den Verlagen verhandelt und ihnen aufzuzeigen versucht, dass im GAV die Arbeitskonditionen externer Mitarbeitender klar geregelt sind. Der Verband Schweizer Medien, dem die Mehrheit der Verlage angehört, hat sogar ein von impressum geschriebenes Memorandum in Umlauf gebracht, um die Grundlage der Zusammen­arbeit in Erinnerung zu rufen. Leider ohne grossen Erfolg.

«Redaktionen sind auf Freie angewiesen.»

Freie sind abhängig von den Verlagen.

Ein Problem ist, dass der Status von Freien nicht einfach zu definieren ist. Sie geniessen auch Vorteile, haben aber nicht alle Vorteile wie Festangestellte via GAV. Die Kosten für ­Arbeitsplatz, Weiterbildung und Infrastruktur (insbesondere IT-Ausrüstung) tragen sie selbst. Wir müssen aber auch unterscheiden zwischen freischaffenden Journalistinnen und Journalisten, die ihre AHV komplett selbst bezahlen, und denjenigen, für welche die Verlage den Arbeitgeber­anteil der Sozialabgaben übernehmen. Häufig ist der Status von Freien gemischt, was die Situation nicht erleichtert.

Ein Rechtsgutachten, das vor 30 Jahren gemacht wurde, hält fest, dass wir ein Arbeitsverhältnis pflegen, das zumeist auf mündlichen Abmachungen beruht und eine Vielzahl von Formen annehmen kann. Freie verfügen zudem nicht immer über einen Unternehmergeist, auch wenn sie um Kooperationen bemüht sind. Sie vergessen, dass der fest­gelegte GAV-Tagestarif (ohne Multimedia) von 565 Franken nicht ein Einkommen, sondern einen Umsatz darstellt. Sie tragen das wirtschaftliche Risiko ihrer Berufstätigkeit selbst. Ausserhalb des GAV dagegen können sie frei verhandeln.

Wenn der GAV nicht respektiert wird, was nützt er dann?

Er bietet einen gewissen Schutz und liefert Referenzwerte für Mindestansätze. Im Freelance-Journalismus bestimmt aber der Kunde den Preis. Versuchen Sie das einmal mit ­Ihrem Garagisten … Freie haben sich daran gewöhnt, sogar wenn sie einen Auftrag ausserhalb des GAV erledigen. Bei redaktionellen Arbeiten für Institutionen beispielsweise muss man immer verhandeln. Die Situation für Freie in der Deutschschweiz ist katastrophal, da sie keinen GAV haben. Ich habe gehört, dass einige Zeitungen für eine Seite manchmal nur 200 Franken bezahlen.

Gibt es viele Freie, die sich der Kommunikation zuwenden?

2017 haben wir von der Paritätischen Kommission des GAV – sie überwacht die Anwendung des Vertrages – einen Auftrag erhalten, bei den Westschweizer Redaktionen eine ­Befragung durchzuführen. Die meisten sagten, sie würden den GAV respektieren. Als wir aber unsere Fragen stellten, merkten wir, dass dies nur selten der Fall war. Eine GAV-Forderung betrifft die Vergütung nach Zeitaufwand. Diese wird nur selten respektiert, ausser bei den Fotografinnen und Fotografen. Wegen der schlechten Bezahlung wenden sich Freie manchmal der Kommunikation zu – mit dem ­Risiko, dass einige den Unterschied nicht mehr machen. Mit Zahlen lässt sich dies aber nicht bestätigen.

Was motiviert JLR-Mitglieder, sich zu engagieren?

Leider ist das Interesse beschränkt … ausser, es gibt ein Problem. Die JLR sind eine Arbeitsgruppe von impressum, Westschweizer Freie von impressum sind alle automatisch Mitglied bei uns. Die Identifikation ist deshalb schwach – im Gegensatz zur Sektion der FotojournalistInnen impressum, bei der ein Grossteil der Mitglieder freischaffend ist. Das entspricht aus meiner Perspektive auch dem allgemeinen Zerfall der Berufsidentität in diesem Sektor.

«Bei uns ist es der Kunde, der den Preis festlegt. Versuchen Sie das einmal mit Ihrem Garagisten …»

War früher also alles besser?

Früher gab es mehr Medien, mehr Platz und finanzielle Mittel und auch etwas mehr Respekt. Der Markt war aufgeteilt. So deckten beispielsweise 24 heures und La Liberté zwei ­verschiedene Märkte ab. Dieselbe Reportage konnte ich ­früher noch an L’Hebdo und die Weltwoche oder an L’Illustré und das Magazin verkaufen. Die erste Publikation deckte die Kosten, aus der zweiten resultierte ein Gewinn. Die Situation hat sich mit der Zusammenlegung von Unter­nehmen und dem Internet komplett verändert.

Haben Sie immer als Freier gearbeitet?

Ich habe als Fotograf und Journalist für das Magazin Radio TV Je vois tout begonnen, als es noch Reportagen publizierte. Ich lieferte Texte und Fotos, das war am Anfang sehr mühsam … Im Verlauf der Jahre habe ich mit praktisch allen Westschweizer Publikationen zusammengearbeitet. Manchmal wurden die Arbeiten in der Deutschschweiz übernommen, meist lieferte ich Text und Bilder. Während gut zehn Jahren war ich – erst freischaffend, dann kurz fest angestellt – bei der UNO in Genf auch mitverantwortlich
für die Tribune des droits humains, eine von der nicht mehr existierenden Agentur InfoSud publizierte Seite.

Und wie so oft im Leben ergibt sich das eine aus dem anderen. So habe ich mit einem sudanesischen Journalisten und einer Juristin eine Weiterbildungswoche für Journalistinnen und Journalisten im Sudan zum Thema «Journalismus und Menschenrechte» organisiert. Ich liebe diese Region, die Leute fesseln einen. Danach bin ich fünf- oder sechsmal dorthin zurück­gekehrt. Meine letzte Reportage über den Sudan wurde im August 2021 in der Tageszeitung Le Courrier veröffentlicht. In den letzten Jahren habe ich auch wieder Freude am ­Schreiben von grossen Reportagen bekommen, die ich in der vierteljährlich erscheinenden Zeitung La Couleur des Jours publiziere.

«Die Jungen sprühen nur so von Enthusiasmus, das freut mich!»

Was sind derzeit Ihre Projekte?

Meine Konzentration gilt derzeit persönlichen Projekten. Seit einiger Zeit mache ich in New York eine Porträtserie über Menschen, deren Sprache vom Aussterben bedroht ist. Streng genommen habe ich noch zwei journalistische Aufträge, die ich regelmässig erfülle – abgesehen von einigen Aus- und Weiterbildungskursen.

Der erste ist ein Magazin einer Wohnkooperative. Der zweite, der mir sehr am ­Herzen liegt, ist die redaktionelle Leitung von En Quête d’Ailleurs. Jedes Jahr verlinkt der Verein junge Westschweizer Journalistinnen und Journalisten mit Kolleginnen und Kollegen in Ländern des Südens. Wir bilden Teams und ­recherchieren in der Schweiz und im Partnerland gemeinsam zu einem festgelegten Thema. Die Reportagen werden in den Medien der Teilnehmenden publiziert und erscheinen online auf eqda.ch. Die Jungen sprühen nur so von ­Enthusiasmus, das freut mich!

Michel Bührer (geboren 1951 in Sainte-Croix) ist seit 1979 im Berufsregister (BR) eingetragen. Er arbeitet als Fotograf und Journalist, meist ­übt er die beiden Tätigkeiten gemeinsam aus. Als Freier arbeitete er mit den wichtigsten Publikationen der Westschweiz zusammen. Er hat eine Vorliebe für soziale und politische Themen sowie Langzeitreportagen aus dem Ausland (unter anderem Iran, Palästina oder Ruanda).

Neben seinen zahlreichen Veröffentlichungen in der Presse hat er sieben Bücher publiziert, fünf davon waren eigene Projekte. Einige fotografische Arbeiten wurden in der Schweiz und im Ausland gezeigt. Michel Bührer ist Präsident der Arbeitsgruppe JLR. Er war Mitglied des Stiftungsrats der Pensionskasse für Journalistinnen und Journalisten von impressum. Von 2007 bis 2020 war er zudem Mitglied des Schweizer Presserats. mbuhrer.ch

1 Kommentar

#1

Von Rudolf Penzinger
11.04.2023
Für die Freien kommt dazu, dass sie kaum mit der Solidarität, oft nicht einmal mit dem Verständnis ihrer festangestellten Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen rechnen können.

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