Das Diktat der Wirtschaftlichkeit gilt auch für die Kulturkritik. Sie muss Klicks, Logins, Abokäufe generieren. Sie ist alles andere als unabhängig. Wie kann das aufgehen?
Von Anne-Sophie Scholl
Sie stellten sich auf und spielten und spielten «als würden sie der Vergänglichkeit trotzen», schreibt Arno Camenisch in seinem Roman «Herr Anselm» über die «vier tapferen Streicher auf dem grossen Dampfer», der Titanic.
Kunst wider die Gewissheit des Todes – man kann sagen, Kultur ist der Sauerstoff, wie unlängst die neue SRF-Kultur-Chefin Susanne Wille. Man kann auch sagen, Kultur ist die Seele oder Kultur ist der Sinn. Auf jeden Fall ist die Kultur systemrelevant – für die Gesellschaft, auf lange Sicht. Aber das ist ebenso der Diskurs über Kultur. Dieser will einordnen, Orientierung verschaffen, Tendenzen und Widersprüche herausarbeiten, Zugänge vermitteln. Das braucht viel Erfahrung, viel Wissen, viel Zeit – und Unabhängigkeit. Es ist eine kuratorische Aufgabe.
Die Unabhängigkeit. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen: Die traditionellen Verlagshäuser haben sie längst verloren. Die Verlage sind zu Wirtschaftskonzernen umgebaut, ihr publizistisches Angebot muss Rendite abwerfen, das Diktat der Wirtschaftlichkeit gilt auch für die Kulturkritik. Dank der Digitalisierung ist Wirtschaftlichkeit genau messbar. Kulturkritik muss heute «fortschrittlich» und «modern» sein: Sie muss Klicks, Logins, Abokäufe generieren. Sie ist alles andere als unabhängig.
Der Imperativ der «Fortschrittlichkeit» und der «Modernität» erinnert an ein anderes Narrativ. In den 1980er und 1990er Jahren umarmten die sozialdemokratischen Parteien diese Begriffe – sie wollten nicht «rückständig» und «bewahrend» sein und verloren grosse Teile der Arbeiterschaft an die rechten Parteien. So gesehen ist es kaum Zufall, dass heute Publikationen mit Schlagseite nach rechts sich Kultur leisten – seit diesem Sommer hat etwa die «Weltwoche» ein ausgebautes Feuilleton.
Die Medienförderung kommt zu spät. Über Förderung von Kulturkritik wird gerade erst nachgedacht, die Geisteswissenschaften sind schon lange entwertet. Auch wenn das wenig «fortschrittlich» oder «modern» klingt: Sauerstoff, Seele, Sinn – womöglich sind diese Dinge gar nicht erstrebenswert für den Durchmarsch eines entmenschlichten Spätkapitalismus. Zumindest: nicht für alle.
Ihr Kommentar