Immer mehr bezahlte Inhalte mischen sich unter redaktionelle Beiträge. Auch der Wirtschaftsverband Economiesuisse hat die Möglichkeit von Native Advertising schon genutzt. Ein Geschäftsmodell für den Journalismus, oder ein Sargnagel für die unabhängige öffentliche Meinungsbildung?
Nina Fargahi
3. Juli 2017: Im «Tages-Anzeiger» erscheint auf Seite 4 ein Interview mit Professor Hans-Peter Landolt, der an der Universität Zürich über den Schlaf forscht. Der Titel ist: «Zuerst Kaffee, dann Schlaf». Das lesenswerte und informative Interview über unseren Schlaf wurde «in Zusammenarbeit mit Ikea erstellt» und läuft unter Native Advertising. Das heisst: Werbung, die beinahe wie ein gewöhnlicher Artikel in einem Medium daherkommt. Ziel ist, dass Werbe-Inhalte wie redaktionelle Beiträge wahrgenommen werden.
Professor Landolt hatte keine Ahnung, dass das Interview in einem Auftragsverhältnis mit Ikea stand. Er sagt auf Nachfrage: «Ich bin nur bereit, unabhängigen Journalisten Interviews über meine wissenschaftliche Tätigkeit zu geben. Hätte ich gewusst, dass das Interview im ‚Tages-Anzeiger‘ gesponsert war, hätte ich es nicht gegeben.» Tamedia habe sich bei ihm entschuldigt. Christian Lüscher, Verantwortlicher von Commercial Publishing bei Tamedia, nimmt folgendermassen Stellung: «Wir arbeiten unabhängig von der Redaktion. Diese Trennung ist uns sehr wichtig. Wir entschuldigen uns für dieses Missverständnis und setzen alles daran, dass sich ein solcher Fehler nicht wiederholt.»
Presserat ändert Richtlinie
Native Advertising ist derzeit ein heisses Eisen in der Schweizer Medienbranche. Der Presserat hat seine Richtlinien geändert, nachdem eine Studentin Beschwerde gegen Native Ads auf «watson» eingereicht hatte: Nicht nur Inserate und Werbesendungen, sondern auch Inhalte, die von Dritten bezahlt oder zur Verfügung gestellt werden, sollen «explizit als Werbung deklariert werden», so der Presserat.
Auch die Chefredaktoren-Konferenz hat sich in ihren letzten Sitzungen mit Native Advertising beschäftigt und begrüsst die Bestrebungen des Verbands Schweizer Medien (VSM), einen Code of Conduct zu definieren, findet aber, dass dies Aufgabe des VSM sei, wie Christian Dorer, Präsident der Chefredaktoren-Konferenz, gegenüber «EDITO» sagt. Der VSM selbst geriet im letzten Mai in die Kritik aufgrund eines Videos zum Thema Native Advertising: In diesem Video erklärte der VSM, dass gesponserte Inhalte «sich wie ein Chamäleon der Umgebung anpassen» würden. Einzig die Vorteile wurden in diesem Video beleuchtet, ohne auf die Risiken und Nebenwirkungen einzugehen. Das Video wurde von der Website entfernt. Diesen Entscheid begründete der VSM-Geschäftsführer Andreas Häuptli gegenüber persoenlich.com mit folgenden Worten: «Es erklärt die Vorteile dieser Werbeform für den Werbekunden, berücksichtigt die Problematik der Unterscheidbarkeit zwischen redaktionellem Inhalt und Werbung für den Leser aber nicht genügend.»
Wichtige demokratische Funktion
Die Diskussion über die Erkennbarkeit beziehungsweise Deklarierung von Native Advertising ist durchaus von Relevanz. Schliesslich sind Journalismus und Werbung zwei völlig unterschiedliche Welten: Erstere erfüllt eine wichtige demokratische Funktion, letztere verfolgt ein rein kommerzielles Interesse. Reicht die Deklarierung «Sponsored», um die Leserschaft darauf hinzuweisen, dass ein journalistisch aufbereiteter Text im Auftrag eines Unternehmens konzipiert und umgesetzt worden ist? Die Meinungen gehen auseinander. (Streitgespräch mit Dennis Bühler vom Presserat und Maurice Thiriet, Chefredaktor von «watson», in der Printausgabe von EDITO.)
Eine breit angelegte Studie der Universität Stanford hat letztes Jahr gezeigt, dass mehr als 80 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler einen gesponserten Beitrag nicht von einer echten Nachricht unterscheiden konnten. Gleichzeitig sagte im SRF-Medienclub vom Mai 2017 der Chefredaktor der «Basler Zeitung», Markus Somm, junge Leute hätten genug Medienkompetenz, um Werbung zu erkennen. Auch der Chefredaktor der Blick-Gruppe, Christian Dorer, wies darauf hin, dass es früher «Publireportagen» gegeben habe, die ähnlich funktioniert hätten wie Native Advertising. Ein Kadermitglied bei einer Schweizer Tageszeitung, das nicht namentlich genannt werden möchte, sagt gegenüber «EDITO»: «Ich habe lieber eine versteckte Werbung im Blatt, als dass ich eine Redaktorenstelle streichen muss.»
Tatsächlich sind die Triebfedern des Native Advertising vor allem ökonomische Zwänge. Die Gründe sind hinlänglich bekannt: Einbrüche im Anzeigengeschäft, sinkende Auflagen, die Konkurrenz im Internet. Aber es geht auch um Aufmerksamkeit: Während früher die Zeitungen die Hoheit über die Nachrichten hatten und Geld gegen Information getauscht wurde, wird heute Geld gegen Aufmerksamkeit gehandelt. Der Architekt und Philosoph Georg Franck führte vor fast 20 Jahren den Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie ein. Demnach sei Aufmerksamkeit ein knappes Gut, das sich in Geld oder Macht ummünzen lasse und in das immer mehr investiert werde, um es zu generieren. Oder anders formuliert: Information ist im Überfluss verfügbar, aber knapp ist die Aufmerksamkeit der Menschen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert A. Simon schrieb schon im Jahr 1971 in einem Essay: «A society, that is information-rich, is attention-poor.»
Und um diese Aufmerksamkeit konkurrieren die Medien, denn sonst können sie keine Werbeeinkünfte erzielen. Gleichzeitig drücken die rückläufigen Auflagezahlen der Zeitungen auf die Inserateeinnahmen. Ausserdem erregt klassische Werbung kaum mehr Aufmerksamkeit: In der Zeitung wird sie übersehen, im Internet mit Adblockern ausgeschaltet. Die Folge ist auch, dass die Werbung abwandert zu mächtigen Akteuren wie Facebook, Youtube und Google. Denn diese grossen Player bieten den Werbetreibenden die Möglichkeit, mit Hilfe der vielen persönlichen Daten sehr zielgruppengerecht ihre Botschaften zu verbreiten. Und Beachtung ist ein Kapitalfaktor. «Werbung ist nichts anderes als der Versuch, mit Geld Aufmerksamkeit zu kaufen, in der Hoffnung, dass diese Aufmerksamkeit sich wieder monetarisiert», sagte Georg Franck kürzlich in einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin «brand eins».
Türöffner für politische Einflussnahme
Stephan Russ-Mohl, Professor für Journalismus und Medienmanagement, geht noch einen Schritt weiter: Seiner Ansicht nach sind wir vielleicht bereits auf dem Weg von der Aufmerksamkeits- zu einer Desinformationsökonomie. Er sagt gegenüber «EDITO»: «Der Journalismus ist unterfinanziert, seine Recherchekapazität schwindet, er hat seine Schleusenwärter-Funktion verloren: Für mehr und mehr Akteure rechnet es sich, im Netz Desinformation zu verbreiten.» Auch was die politische Einflussnahme betrifft, könnte diese Entwicklung ein Türöffner sein. So ist Native Advertising im politischen Kontext in anderen Ländern bereits Realität: Während der Bürgermeisterwahlen in Norwegen bezahlte die Labour Party der Tageszeitung «Nordlys» ein Interview mit ihrem Kandidaten. Auch in den USA ist «Political Native Advertising» bereits salonfähig: «Politico», eines der wichtigsten Politmagazine der USA, hat beispielsweise die Vermarktungsabteilung Politico Focus eingerichtet. Sie kann zwar keine grosse Reichweite anbieten, erreicht aber die politische Elite in Washington. «Politico» schreibt dazu: «Top companies advertise with us to reach thought leaders, with the goal of influencing their views and agendas.»
In der Schweiz hinkt die Entwicklung den USA hinterher. Politisches Native Advertising steckt hierzulande noch in Kinderschuhen, doch Russ-Mohl sagt: «Ich fürchte, das wird auch bei uns kommen.» Der Wirtschaftsverband Economiesuisse sagt auf Anfrage, dass er die Möglichkeit von Native Advertising auf «watson» auch schon genutzt habe, dass dies aber bisher kein Instrument sei, das man standardmässig oder flächendeckend einsetzen wolle.
Jedenfalls versuchen auch hierzulande die Medienhäuser, mit neuen Formen die Werbekunden bei der Stange zu halten. Während die Verlage früher wegen Platzmangel zuweilen Inserate ablehnen mussten, wird heute um jeden Werbekunden gekämpft. Die grossen Medienhäuser haben Abteilungen für Native Advertising geschaffen: Bei Tamedia heisst die Abteilung «Commercial Publishing», bei Ringier «Brand Studio» und bei der NZZ «Content Solutions». Beat Krapf, der sich letztes Jahr in seiner Masterarbeit an der Leipzig School of Media mit dem Thema beschäftigt hat, kommt zum Schluss, dass in den untersuchten Medienunternehmen (Tamedia, Ringier, Watson und Vice) neue Strukturen aufgebaut worden seien, die denjenigen von Werbeagenturen ähneln würden.
Nachfrager entscheiden
Es findet eine Machtverschiebung statt. Laut Russ-Mohl sind es heute die Nachfrager, die entscheiden können, wo sie ihr Geld für Werbung ausgeben, und ob es sich womöglich nicht mehr lohnt, in PR statt in Werbung zu investieren, um Aufmerksamkeit zu generieren. John Lloyd und Laura Toogood vom Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford schreiben in einer Studie aus dem Jahr 2015: «Public Relations wird vom Journalismus unabhängiger, während der Journalismus immer mehr in die Abhängigkeit von der PR gerät.»
Der Medienforscher Lutz Frühbrodt sagt gegenüber «EDITO»: «Die kommerzielle und damit eindeutig interessengesteuerte Kommunikation wird massiv zunehmen und die öffentliche Meinungsbildung mittelfristig stark beeinflussen.» Dabei bleibt es nicht beim Native Advertising; Verlage und Firmen werden weiterhin an neuen Formen und Kooperationen tüfteln. Wie zum Beispiel die internationale Nachrichtenagentur Reuters: Letztes Jahr hat sie mit Red Bull vereinbart, dass der Energydrink-Hersteller kostenlos von seinen eigenen Extremsport-Events berichtet und Reuters dies direkt in die Agenturmeldungen einspeist.
Legitimes Interesse der Werbeindustrie
Ist es verkehrt, dass Firmen nicht nur mit Werbung, sondern auch mit Inhalt überzeugen wollen? Viele gesponserte Artikel sind informativ und spannend zu lesen; oft wird das bewerbende Produkt nicht einmal erwähnt, ganz nach dem Motto «Don’t talk about products, talk around products». Das Interesse der Werbeindustrie, die Aufmerksamkeit der Kundschaft mit substanziellen Inhalten zu gewinnen statt mit plumpen Werbebannern, ist legitim.
Native Advertising beschreibt ein Dilemma, das kaum aufzulösen ist: Werbeinhalte sollen absichtlich in einer journalistischen Aufmachung zur Verfügung gestellt werden, weil die seriöse Erscheinung die Glaubwürdigkeit und damit auch die Aufmerksamkeit bei den Mediennutzern steigert. Doch je deutlicher deklariert wird, dass es sich bei einem bestimmten Inhalt um Werbung handelt, desto leichter ist er als solche erkennbar und somit für den Mediennutzer wohl weniger relevant. Zu viel Transparenz unterläuft den Zweck einer Werbeform. Umgekehrt fühlen sich die Mediennutzer veräppelt, wenn sie dahinterkommen, dass sie gerade etwas gelesen haben, das Werbung ist, aber nicht deutlich genug als solche ausgewiesen ist.
«Wir freuen uns schon, wenn Apple über die Arbeitsbedingungen in China berichtet oder Coca-Cola über die Segnungen der Globalisierung», schrieb Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», im Jahr 2014 in einem Essay über die Zukunft des Journalismus. Damit es nicht so weit kommt, müssen die Medienhäuser ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehört, die unabhängige öffentliche Meinungsbildung nicht auf dem Altar ihrer kommerziellen Ziele zu opfern.
Nina Fargahi
Chefredaktorin EDITO (de)
11 Kommentare
#1
Tatsächlich mache ich in meinem jetzigen Job dasselbe wie für einen Verlag - von der Themenplanung bis zum Schreiben von Texten. Ja, die Texte decken keine Skandale auf, aber schöne Lesegeschichten habe ich auch schon zu Zeiten geschrieben, in denen ich "unabhängiger" Journalist war.
Und zum Thema Native Advertising: Überwiegend bin ich davon ohnehin enttäuscht, weil echte Mehrwerte immer häufiger Fehlanzeige sind: http://editorial-blog.de/native-advertising-am-ende-wegen-verlust-von-glaubwuerdigkeit/
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12.09.2017