Ich-Texte verdienen mehr Anerkennung, da sie keine Objektivität vortäuschen. Die Vogelperspektive können Journalisten sowieso nicht einnehmen.
Von Julia Kohli
Es gibt zwei Dinge, über die ich mich nicht aufregen kann: E-Scooter und Ich-Texte. Erstere tun mir sogar ein bisschen leid, sehe ich nachts ihre einsamen roten Lichtlein. Und mit einem Ich hausiere ich selbst ständig, also wäre es etwas kurios. Journalisten kriegen von ihren Kollegen gerne ein Oberflächlichkeits-Etikett verpasst und heissen hinter vorgehaltener Hand «die/der mit den Ich-Texten». Schwer wiegt der Verdacht, mit möglichst wenig Rechercheaufwand billige Selbstinszenierung zu praktizieren.
«Es icht ganz furchtbar», beklagt sich Michael Sontheimer von der TAZ, Journalisten seien meist langweilige von Lehrer-Eltern erzogene Mittelstands-Menschen, allein «charismatische, kluge Personen» könnten mit einem Ich einen Mehrwert in einen Text bringen. «Nur grosse Texte vertragen ein Ich», schreibt auch NZZ-Folio-Chefin Christina Neuhaus; zu viele «schlichte Gemüter» würden in ihren Blogs damit um sich schmeissen. Ganz anderer Meinung ist Constantin Seibt: «Mit dem Einkerkern des Subjektiven in die Gitterstäbe von Kommentar und Kolumne versperrt sich eine Zeitung ein ganzes Feld von Möglichkeiten, auf Ereignisse zu reagieren», der Verzicht sei ausserdem unlogisch, denn Schreiben sei eine geradezu absurd subjektive Angelegenheit, so sein Plädoyer in einer früheren Tages-Anzeiger-Kolumne.
Narzissmus! Diesen Aufschrei hörte ich neulich, als jemand über ein Ich in einer Buchrezension gestolpert ist. Seltsam, handelt es sich doch um eine stark persönlich geprägte Textgattung. Doch auch ich muss zugeben, dass mir die erste Person Singular bisher noch nie in eine Rezension geschlüpft ist. Vielleicht der Druck der Konvention? Denn abwegig wäre es nicht, fälle ich doch in einer Buchbesprechung subjektive Urteile am Laufmeter. Sitzen Journalisten einer Geistesverwirrung auf, einem Grössenwahn vielleicht, weil sie denken, in gewissen Textsorten eine «neutrale» Vogelperspektive einzunehmen zu können? Nichts könnte abwegiger sein, sind sie doch durch ihren individuellen Erfahrungshorizont extrem beschränkt.
Ein «Ich» zu setzen ist ein Risiko, das respektiert werden sollte.
Ganz frech behaupte ich: Das Ich hat immer einen Mehrwert. Entweder gehen die Texte unter die Haut, wie es zum Beispiel NZZ-Afrikakorrespondent David Signer bewies, indem er über seine Erfahrung mit der Hexerei berichtete, oder ein Artikel ist so wunderbar peinlich, dass es ebenfalls eine wahre Freude ist! Unvergessen bleibt mir ein unter männlichem Pseudonym erschienener Essay in der NZZ am Sonntag über eine gescheiterte Affäre, wo «jenseits von Zeit und Raum, bei Kerzenlicht und leichtem Jazz, aber ohne Küsse» auf dem Sofa rumgelümmelt wurde.
Das journalistische Ich sei auch ein Phallus, erklärt Welt-Feuilletonistin Hannah Lühmann, «es verkörpert die Macht. Es prägt sich in einem traditionell von Männern praktizierten Gestus als beiläufige Egozentrik ein». Sie moniert zu Recht, dass das männliche Ich oft als verruchter Gonzo-Journalismus durchgeht, während dasselbe bei Frauen tendenziell «Nabelschau» geschimpft wird. Maskulinisten wie der 1903 verstorbene Otto Weininger sprachen Frauen übrigens das Ich ab. Ein Grund für Journalistinnen, es mit Stolz zu verwenden.
Ein Ich zu setzen ist ein Risiko, das respektiert werden sollte. Im journalistischen Kontext sollte es auch nicht mit dem literarischen, von der Verfasserin entfremdeten Ich gleichgesetzt werden. Das Ich im Journalismus übernimmt Verantwortung und ist verletzlich – es setzt sich giftiger, emotionaler Kritik aus. Ein mausgrauses «man», ein übergriffiges «wir» oder das unheimliche «es» sind nicht nobler oder seriöser, sondern reine Konvention, wenn nicht sogar Feigheit.
Schlussendlich geben Ressortleiter und Chefredakteurinnen grünes Licht für Ich-Texte – sie schleichen sich nicht heimlich in eine Zeitung. Panik vor einer Ich-Inflation ist überdies auch nicht angebracht, denn es handelt sich immer noch um ein eher seltenes Phänomen. Auf diese journalistischen Farbtupfer – ob tiefgründig oder blamabel – möchte ich in Zukunft auf jeden Fall nicht verzichten.
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