Sie war die erste Frau an der Spitze des Tagesanzeigers, jetzt wird sie SRG-Ombudsfrau. Esther Girsberger kennt die Medienschweiz wie ihre Westentasche. Wieso findet sie die NZZ «zu deutsch»? Und warum hat sie Militärdienst geleistet? Ein Porträt.
Von Nina Fargahi
Die Stille. Das antwortet Esther Girsberger auf die Frage, was ihr am Tiefseetauchen, ihrem langjährigen Hobby, so gefällt. Eine überraschende Antwort, gilt sie doch als laute Person. Sehr laut sogar. Aber so müssten Frauen sein, um sich Gehör zu verschaffen, sagt sie.
Esther Girsberger hat es schon immer verstanden, sich Gehör zu verschaffen. Mit 36 Jahren, im Jahr 1997, wurde sie als erste Frau Chefredaktorin des Tagesanzeigers. Als gleichzeitiges Mitglied der Geschäftsleitung geriet sie in einen Interessenskonflikt. Ein Kommentar schliesslich, in dem sie das hauseigene Produkt Facts angriff, weil es Gerüchte über angebliche Bordellbesuche des damaligen Bundesrats Kaspar Villiger verbreitete, wurde ihr zum Verhängnis. «Ich wurde von der Tamedia-Konzernleitung nicht gestützt.» Sie reichte die Kündigung ein. Seither ist der Chefredaktor beim Tagesanzeiger nicht mehr in der Geschäftsleitung vertreten.
Girsberger wurde anschliessend Kommunikationschefin bei Novartis, hielt es aber nur zwei Monate dort aus. «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende», so ihr Kommentar über ihren Abstecher in die «Corporate World» von Novartis.
Heute übt sie diverse Mandate aus, hat ihre eigene Firma, und ab April 2020 wird sie Ombudsfrau der SRG Deutschschweiz zusammen mit einem Ombudsmann, Kurt Schöbi.
«Gute Vorgesetzte müssen die Talente erkennen»
Girsberger sitzt am Esstisch in ihrem Haus am Zürichberg, das viel vom Bauhaus-Stil hat; ihr Grossvater war der Verleger des Architekten Le Corbusier. In der Stube steht ein schwarzer Flügel, daneben ein Geigenkasten. Einmal hatte sie an einem Verwaltungsrats-Anlass der damaligen Tamedia Geige gespielt. Sie ist auch Vizepräsidentin der Musikschulkommission der Stadt Zürich. Eine passionierte Stadtzürcherin sei sie. «Es gibt so viele gute Geschichten in dieser Stadt, die noch nicht geschrieben wurden.»
Wenn sie wieder in den Journalismus einsteigen würde, dann würde sie Lokaljournalismus machen. Aber nicht so wie unlängst der Blick, der auf reisserische Art über einen Sekundarschüler in Meilen berichtete, der sich selbst angezündet habe. «So verkürzt, das ist medienethisch inakzeptabel», sagt Girsberger. Sie liest täglich die NZZ und den Tagi, hat drei Sonntagszeitungen abonniert sowie die Republik. «Die Weltwoche lese ich, weil ich sie gratis erhalte.» Sie sei ein Medien-, aber kein News-Junkie, sagt sie von sich selbst.
Auf die Entwicklung in der Medienbranche blickt sie mit Nüchternheit. «Vor fünf Jahren hätte ich gesagt, dass die Printmedien überleben. Heute würde ich das nicht mehr so dezidiert sagen.» Der Journalismus werde überleben, doch die Frage sei, wie und auf welchen Kanälen. Und mit welchen Ressourcen. Ihr falle auf, dass viele Journalisten ihre Hausaufgaben nicht machen würden. Womöglich, weil ihnen die Zeit fehle. «Sie gehen unvorbereitet an ein Gespräch, zapfen Leute an, ohne vorher recherchiert zu haben.» So mache man sich beeinflussbar.
«Das vertreibt jeden allfälligen Akademikerdünkel.»
Interessant findet Girsberger auch die Leadership-Frage in den Redaktionen: «Die eine Person versteht es, Kurzfutter in einem Coronavirus-Ticker bereitzustellen, die andere Person kann Zusammenhänge begreifen. Gute Vorgesetzte müssen die Talente erkennen und die richtigen Leute an den richtigen Stellen einsetzen.» Girsberger haut auf den Tisch, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. Das tut sie immer mal wieder, so dass einem beim Nachhören des aufgenommenen Gesprächs die Ohren wackeln. Man spürt, dass sie gelernt hat, sich durchzusetzen. Girsberger hat Militärdienst geleistet und wurde Korporal. Dies, obwohl sie nicht unbedingt an «gleiche Rechte, gleiche Pflichten» glaubt, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht.
Was war denn der Grund? Girsberger erzählt, dass sie nach dem Studium eine Zeit lang in Israel gelebt und mit dem Gedanken gespielt habe, dorthin auszuwandern und die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Doch dann hätte sie in Israel zwei Jahre Militärdienst leisten müssen. Ausser, sie hätte nachweisen können, dass sie das schon in der Schweiz erledigt hätte. So weit kam es nicht. Aber gelernt habe sie viel. Im Militär sei sie mit so vielen unterschiedlichen Menschen in Kontakt gekommen, mit ganz anderen Lebensentwürfen als die ihrige: «Das vertreibt jeden allfälligen Akademikerdünkel.» Aufgewachsen ist Girsberger nämlich in bürgerlichen Verhältnissen in einer Akademikerfamilie. Ihre Eltern, beide Rechtsanwälte, hätten sie und ihre beiden älteren Brüder in ihren beruflichen Ambitionen stets gefördert.
FDP-Mitglied aus Mitleid
Nach ihrer Promotion in Rechtswissenschaften 1989 fand Girsberger den Weg in den Journalismus. Bei einem Kaffee mit dem damaligen Literaturprofessor und NZZ-Feuilletonchef Werner Weber machte dieser sie auf eine ausgeschriebene Stelle bei der NZZ aufmerksam. Als sie bald darauf im Inlandressort der NZZ anfing, trat sie der FDP bei. «Das war damals üblich.» Der damalige Chef des Lokalressorts, Andreas Honegger, war FDP-Kantonsrat; der damalige NZZ-Inlandchef, Kurt Müller, war FDP-Nationalrat.
Allerdings trat Girsberger bei der Nichtwahl von Christiane Brunner enttäuscht aus der Partei aus. Sie sei erst vor etwa sieben Jahren wieder der FDP beigetreten, als die Partei an einem totalen Tiefpunkt gewesen sei. Also aus Mitleid? «Das kann man so sagen.» Auch bei der NZZ stieg sie nicht ganz aus und ist seit ein paar Jahren Aktionärin. Auch wenn sie findet, dass das Blatt «zu deutsch» geworden sei. Was bedeutet das? «Die Deutschlandberichterstattung ist mittlerweile so dominant geworden, dass man meint, es mit einer deutschen Tageszeitung zu tun zu haben.»
Letztes Jahr twitterte Girsberger von der Generalversammlung der NZZ: «Wie immer: Im Rücken von Männern stehen starke Frauen.» Allerdings: Sind die starken Frauen im Rücken von Männern nicht fehl am Platz? Doch, findet sie. Aber so sei das heute noch, wenn auch nicht so schlimm wie früher. «Heute ist es zum Glück nicht mehr selbstverständlich, dass sich Frauen an der Seite oder im Rücken der Männer positionieren.» Auch in der Medienbranche habe ein Wandel stattgefunden, aber: «Frauen sind noch längst nicht da, wo sie sein sollten.» Mit ein Grund, weshalb Girsberger am letzten Frauenstreik mitlief.
Auch die Themen rund um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf liegen ihr am Herzen. Sie selbst wurde mit 42 Jahren erstmals Mutter. Würde sie ihren Kindern, die heute 15 und 17 Jahre alt sind, den Journalisten-Beruf empfehlen? «Man soll immer seiner Leidenschaft folgen. Wenn jemand gut schreiben kann, gern mit Menschen spricht und neugierig ist, dann ist Journalismus nach wie vor ein Weg.»
Über dem Haus von Girsberger ist mittlerweile der Abend angebrochen. Beim Verlassen des Anwesens hoch am Zürichberg fällt etwas auf im Quartier: Es ist die Stille. Kein Tramgeräusch, kein Autobrummen, kein Stadtlärm. Hier muss sich niemand Gehör verschaffen.
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