Verdeckte Filmaufnahmen bei Recherchen sind für Journalist-innen nach einem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) wieder möglich. Das Strassburger Gericht hat einen Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts korrigiert. EDITO hat mit dem siegreichen Anwalt Rudolf Mayr von Baldegg gesprochen. Von Philipp Cueni.
Das Bundesgericht hatte 2008 eine Sendung des Kassensturzes von 2003 gerügt und in der Begründung den Einsatz der verdeckten Kamera als illegale Aufnahme von Gesprächen und Verletzung der Persönlichkeitsrechte bewertet. Damit war diese Methode als gesetzeswidrig definiert und nicht mehr anwendbar.
Bei der Sendung von 2003 filmte der Kassensturz Versicherungsbroker heimlich bei gestellten Beratungsgesprächen und zeigte damit auf, wie teilweise unseriös und betrügerisch solche Verkaufsgespräche geführt werden.
SRF hatte 2008 für die damals verurteilten drei Journalisten den Fall weitergezogen und den Fall dem Rechtsanwalt Rudolf Mayr von Baldegg übergeben.
Herr Mayr von Baldegg, Sie gewinnen in Strassburg gegen das höchste Schweizer Gericht. Das darf man doch durchaus als Grosserfolg bezeichnen.
Mayr von Baldegg: Ich war sehr erfreut über den erfolgreichen Ausgang dieser fast unendlichen Geschichte und das grosse Echo, welches zeigt, dass das Thema wirklich interessiert. Hoffentlich stärkt das Urteil die Verantwortlichen in den Medienhäusern in der Überzeugung, dass das Publikum in einer freiheitlichen Gesellschaft auch Anspruch auf kritische resp. unbequeme Berichterstattung hat.
Bedeutet der Strassbuger Entscheid, dass das Urteil des Bundesgerichtes damit aufgehoben und die Arbeit mit verdeckter Kamera ab sofort wieder möglich ist?
Grundsätzlich hat der EGMR den spezifischen Fall beurteilt und eine Verletzung der Meinungsfreiheit festgestellt. Die Verurteilung der betroffenen vier Journalisten ist damit aber nicht per se aufgehoben. Zunächst besteht die Möglichkeit, dass die (verurteilte) Eidgenossenschaft den Fall innert 3 Monaten an die grosse Kammer weiterzieht. Selbst wenn dies nicht geschieht bleibt die (konventionswidrige) Verurteilung der Journalisten durch das Bundesgericht weiterhin in Kraft – es sei denn, dass das Bundesgericht auf Revisionsbegehren der Betroffenen hin den Entscheid aufheben würde. Eine solche Revision ist unter uns noch nicht erörtert worden. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit mit versteckter Kamera im Rahmen der nun beurteilten Konstellation (grosses öffentliches Interesse, bestmögliche Wahrung der Persönlichkeitsrechte wie etwa durch Anonymisierung und Beweisnotstand) möglich.
Es gibt noch ein weitere, jüngeres Urteil des Bundesgerichtes in gleicher Sache, aber in anderem Fall (Schönheitschirurg Meyer-Fürst).
Andere Urteile, wie etwa dasjenige des bekannten Schönheitschirurgen gelten demzufolge grundsätzlich weiter, erscheinen (rückwirkend) aber in einem anderen Licht, weil die vom EGMR gestellten Anforderungen, ausser der Anonymisierung, auch da erfüllt waren. Der EGMR verlangt eine Güterabwägung zwischen der Wahrung der Persönlichkeitsrechte und der öffentlichen Interessen. Während beim nun beurteilten Fall der Versicherungsbroker nicht der einzelne Berater, sondern die Qualität der Branche anvisiert war, ging es bei den persönlich erbrachten Dienstleistungen des Mediziners um den einzelnen Anbieter, weshalb der Warneffekt für das Publikum nur mit der Identifizierung des Arztes erreicht werden konnte.
Die SRG hatte dieses Grundsatzurteil nach Strassburg weitergezogen. Das Verfahren dauerte 7 Jahre.
Tatsächlich dauerte der ganze Instanzenzug insgesamt 12 Jahre. Natürlich braucht es eine gewisse Überzeugungsarbeit bei den Betroffenen, wenn man vor Obergericht und Bundesgericht unterliegt (immerhin hatte schon das Bezirksgericht als erste Instanz einen Freispruch gestützt auf die Wahrung berechtigter Interessen ausgesprochen!). Häufig wird in der Öffentlichkeit der Weiterzug nach Strassburg auch als blosse "Zwängerei" empfunden. Glücklicherweise hatte ich bereits 2012 Erfolg mit meiner Beschwerde in Strassburg betreffend die Verweigerung eines Interviews in der Strafanstalt (Fall Damaris Keller), sodass die Hoffnung nicht unbegründet war. Sodann haben die Betroffenen und die zuständigen Instanzen bei der SRG und SRF den Weiterzug immer unterstützt.
Der Presserat sagt in seinem Kodex, die versteckte Kamera sei ethisch nur unter gewissen Bedingungen, quasi als letzter notwendiger Weg einer im öffentlichen Interesse relevanten Recherche, zulässig. Geht das Recht jetzt weiter als die Ethik oder setzt auch das Recht Bedingungen?
Inhaltlich war ich stets überzeugt, dass die versteckte Kamera unter spezifischen Voraussetzungen – wie sie jetzt vom EGMR formuliert wurden – zulässig sein muss. Denn es kann nicht sein, dass Medienschaffende einerseits wegen der Verbreitung unwahrer Tatsache verurteilt werden, wenn man ihnen andererseits den Wahrheitsbeweis zu erbringen verwehrt! Gerade Vorwürfe wie vermutete Missbrauchsfälle in Heimen und Anstalten, medizinische Fehlleistungen mit körperlichen Beeinträchtigungen oder wie hier Finanzberatung mit existenziellen Folgen oder ähnlichem, bei denen der Wahrheitsbeweis nicht anders erbracht werden kann, müssen so belegt und aufgeklärt werden können. Immerhin ist bei Bank- und Versicherungsbetrugsfällen die verdeckte Recherche mittels Kameras und Detektiven schon immer als zulässig erachtet worden, obwohl sie in erster Linie den eigenen (wirtschaftlichen) Interessen der individuellen Anbieter und nicht diejenigen der breiten Öffentlichkeit dienen.
Kann man aus dem Urteil, das sich auf die verdeckte Recherche mit der Kamera bezieht, auch Folgerungen für Rechercheformen ohne Kamera ableiten?
Das Urteil hat meines Erachtens Präjudizwirkung für alle Formen der verdeckten Recherchen. Der EGMR hat in seinem Entscheid auch Bezug auf die ethischen Rechte und Pflichten der Medienschaffenden genommen, indem er das Vorgehen bei der Recherche und die Testanlage positiv gewürdigt hat, insbesondere die Anonymisierung und die Gewährung der Möglichkeit zur Stellungnahme der betroffenen Versicherungsberater. Im Übrigen weichen die ethischen Vorgaben nicht von den rechtlichen ab.
Die SRG hatte seit dem letzten Bundesgerichtsurteil strikt auf den Einsatz der versteckten Kamera verzichtet. Ein Privat-TV (Tele M1) hatte inzwischen für einen Bericht (schlecht bewachte Gewehre am Eidg. Schützenfest) mit gleicher Methode sogar einen Medienpreis gewonnen. Ohne Klage keine Konsequenzen?
Selbstverständlich ist jeder Fall einzeln zu beurteilen. Und klar ist auch, dass es sich bei den in Frage stehenden Tatbeständen um Antragsdelikte handelt (vgl. Fall Schützenfest).
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