Aktuell – 10.12.2013

Informant oder verzweifelter Wirrkopf am Telefon?

Redaktionen sind auch Anlaufstellen für Leute, denen Unrecht geschehen ist oder die zumindest glauben, dass ihnen Unrecht geschehen ist.  Wie reagieren, wenn unklar ist, ob die erzählte Geschichte stimmt? Wenn Geschichte und Erzähler wirr wirken? Edito+Klartext hat bei Journalisten nachgefragt, die viel Erfahrung mit solchen Situationen haben. Von Bettina Büsser

Sie rief mich an, weil end­lich jemand darüber schrei­ben müsse: Eine Frau, der Stimme nach älter, und sie sprudelte gleich los, über Antennen, mit deren Hilfe sie verfolgt werde, niemand helfe ihr, auch nicht ihr Mann, ihre Nachbarn zündeten nachts mit Scheinwerfern in ihr Zimmer, die Polizei komme schon gar nicht mehr. Es gelang mir einzuwerfen, dass die Medien, für die ich arbeite, für diese Geschichte nicht geeignet seien. Doch das hielt sie nicht davon ab, wieder anzurufen. Ich habe nie begriffen, was der Kern ihrer Probleme war. Als sie begann, mich auch zuhause anzurufen, auch nachts, verbot ich es ihr. Sie meldete sich nicht mehr. Doch sie tut mir jetzt noch leid: Die Welt, in der sie lebt, muss beängstigend sein.

Diese Geschichte habe ich im letzten Jahr erlebt, und bin damit nicht allein: Viele Medienschaffende erhalten solche Anrufe oder Briefe mit möglichen Unrechts­geschichten. Ungefähr sechsmal pro Jahr, schätzt "Südostschweiz"-Chefredaktor ­David Sieber, wird jemand aus seiner ­Redaktion mit einer Geschichte dieser Art konfrontiert: "In den allerwenigsten Fällen können wir helfen. Einerseits, weil es schlicht keine Geschichte ist, und andererseits, weil wir gar nicht die Kapazität haben, vertiefte Abklärungen vorzunehmen." Er höre den Personen dann zu und verlange verwertbare Unterlagen, schriftliche Beweise, harte Fakten: "Wenn sie dann aggressiv reagieren, muss man cool bleiben und darauf hinweisen, dass nicht wir den Kontakt gesucht haben." Nicht selten handelt es sich, so Sieber, bei den Anrufenden um kantonsfremde Personen, die sich bei der "Südostschweiz" melden, nachdem sie bei den "üblichen Adressaten" abgeblitzt sind.

Zu den "üblichen Adressaten" gehört der "Beobachter" mit seiner Beratungs­tradition für Leute, denen Unrecht geschehen ist oder die das glauben. Redaktorinnen und Redaktoren des "Beobachters" ­haben regelmässig einen Tag lang Telefondienst und nehmen die Anrufe entgegen, die bei der Redaktion eingehen, weil die Anrufenden wollen, dass die "Wahrheit" über ihre Geschichte geschrieben wird.

Vom Mond und Montagen. Nach der ­Erfahrung von "Beobachter"-Redaktor Thomas Angeli hängt die Anzahl der Anrufe an seinen Telefontagen von zwei Faktoren ab: "Bei Voll- und Neumond sind es am meisten Anrufe. Und am Montag, denn die Leute haben am Wochenende Zeit, an ihren Problemen herumzudenken." Maximal zehn Prozent der Anrufe ergeben wirklich einen Artikel, sagt Angeli. Häufig gehe es um Beziehungs- und Nachbarschaftsstreitigkeiten, doch wenn er den Anrufenden sage, dass auch die Gegenseite zu Wort kommt, wenn der "Beobachter" darüber berichtet, wollten sie es nicht mehr: "Oft werden sie dann wütend, weil sie erwarten, dass wir genau das schreiben, was sie erzählen."

Doch wie vorgehen, wenn die Geschichte – und der Anrufer – so kompliziert sind, dass die Journalistin, der Journalist überfordert ist? Toni Wirz, früher Beobachter"-Redaktor und seit über zehn Jahren Leiter des "Beobachter"-Beratungszentrums, hat viel Erfahrung mit solchen Situationen. "Es melden sich bei uns regelmässig Leute mit Geschichten, die so schwierig sind, dass man kaum an das eigentliche Problem herankommt. Dabei ist Klarheit wichtig. Man muss am Anfang grundlegende Fragen stellen, um überhaupt herauszufinden, worum es geht", sagt er. So sei es möglich, sich ein Bild zu machen, ob an der Geschichte etwas dran ist oder ob im Hintergrund eine Verschwörungstheorie, ein Wahnsystem steht. Kommt man zum Schluss, dass Letzteres der Fall ist, sollte man dem Anrufenden möglichst früh klarmachen: Du bist bei mir am falschen Ort, ich kann dir nicht helfen. "Es ist schwierig, jemandem so etwas zu ­sagen", so Wirz: "Doch man muss es tun und auch dabei bleiben."

Zur Sache in drei Sätzen. Klarheit ist auch bei Thomas Angeli ein wichtiges Stichwort: "Ich höre zuerst einmal zu und verlange dann nach einiger Zeit: Sagen Sie mir in drei Sätzen, worum es geht. Dann wird es meist klarer." Häufig kommt nach Angelis Erfahrung "nach etwa einer Viertelstunde" eine Aussage, die im Widerspruch zur Geschichte steht, oder er stellt fest, dass genannte Fakten nicht stimmen können oder die Geschichte nicht für eine journalistische Aufarbeitung taugt. Manchmal, sagt Angeli, weinen die Anrufenden, wenn er ihnen das mitteilt, andere werden wütend – und man sei "schnell einmal" Teil einer Weltverschwörung.

Hat Angeli jedoch den Eindruck, dass etwas hinter der Geschichte steckt, fordert er schriftliche Unterlagen an: "Ich bitte die Anrufenden, das Geschehen chronologisch aufzuschreiben und mir, je nach Fall auch mit dem entsprechenden Gerichtsurteil, zu schicken." Dies auf maximal 15 Seiten, "wenn es mehr ist, schicke ich es gleich ­zurück". In vier von fünf Fällen hört er nach dieser Aufforderung nichts mehr.

Auch "Blick"-Reporter Viktor Dammann erlebt solche Situationen. Obwohl es den "Heissen Draht" nicht mehr gibt, ist der "Blick" doch Anlaufstelle geblieben. ­Telefonische Anfragen laufen über eine Zentrale; wer anruft, weil er sich ungerecht behandelt fühlt, wird an die Reporter weitergeleitet. Dammann erhält auch Briefe, die rechtliche Probleme beinhalten, denn da er unter anderem Gerichtsberichterstatter ist, sind Briefe und Anrufe oft Folgegeschichten zu seinen Gerichtsartikeln.

Hart nachfragen. "Wenn die Behauptungen der Leute unglaublich klingen, frage ich anhand einer bestimmten Behauptung genau und auch hart nach, das ist oft hilfreich", erzählt Dammann. Bezeichnet zum Beispiel jemand eine Person als korrupt, will er wissen: "Warum ist der ­korrupt? Haben Sie das gehört oder selber erlebt?" Kommt keine ausreichende Erklärung und weicht die Person aus, sagt Dammann zu ihr: "Ich glaube, es bringt nichts, wenn wir miteinander reden, weil Sie mir keine Frage beantworten."

Ist eine Sache bereits vor Gericht gelangt, will Dammann das aktuellste Urteil sehen: "Wenn sie es nicht herausrücken, weil darin auch viel über sie steht, dann ist die Geschichte gestorben." Und ist ein Anwalt im Spiel, verlangt er, dass der Anrufer diesen vom Anwaltsgeheimnis entbindet, damit er mit ihm sprechen kann: "Die meisten Leute erzählen ihre Geschichte kompliziert und emotional, der Anwalt kann das Rechtliche besser rüberbringen." Nach einem Anwalt, einem Arzt oder sonst einer Vertrauensperson, mit der er sprechen kann, erkundigt sich auch Toni Wirz manchmal: Dann, wenn er den Eindruck hat, an einer Geschichte könnte etwas dran sein, "aber derjenige, der sie mir erzählt, kann sie nicht so darstellen, dass ich sie ­verstehe."

Bei Suiziddrohung Polizei. Ganz schwierig wird es, wenn jemand mit Suizid droht. "Das kommt vor", sagt Dammann, und dass er dann die Polizei einschaltet. Einmal hat ihm ein Anrufer gesagt, er habe Kinder und zwei Kanister Benzin im Auto und fahre nun zum Bundesgericht, um sich dort anzuzünden: "Ich habe die Polizei ­informiert und es gelang, ihn rechtzeitig zu finden. Er hatte tatsächlich die Kinder und das Benzin im Auto", sagt Dammann. Manchmal melden sich auch Leute aus der Psychiatrie bei ihm, die sich über Zwangsmedikation und Freiheitsberaubung beklagen, oft, weil sie via eine fürsorgerische Unterbringung eingewiesen wurden. Dammann weist sie jeweils darauf hin, dass sie dagegen beim Obergericht Beschwerde einlegen können, direkt oder über den ­Verein Psychex: "Manchem von diesen ­Anrufern sage ich auch: Schauen Sie, Sie sind ­offenbar im Moment nicht so gut ‚zwäg’, lassen Sie sich doch helfen."

Es gibt Anlaufstellen wie etwa Krisen­interventionsstellen, an die man weiterweisen kann. Doch, so sagt Toni Wirz, wollen diejenigen, die einzelne Journalisten oder Medien anrufen, meist, dass ihre Geschichte publiziert wird: "Sie haben kein Musikgehör für etwas anderes." Leute, die krank sind und in einem Wahnsystem leben, haben sich oft bereits bei verschiedenen Stellen gemeldet und antworten auf solche Vorschläge mit: "Dort war ich auch schon, die helfen mir auch nicht."

"Irgendwann muss man ihnen sagen: Dann weiss ich auch nicht weiter, ich kann Ihnen nicht helfen", sagt Wirz. Doch es gebe Fälle, in denen man sich entschliesse, doch noch etwas zuzuhören, weil man die Not des Anrufenden realisiere: "Manchmal gibt es Lücken im Erzählfluss, und in ­solchen Momenten frage ich: Gibt es in ­Ihrer Umgebung jemanden, zu dem Sie Vertrauen haben und mit dem Sie sich ­aussprechen können? Denn Sie leiden ja auch unter dieser Situation."

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Tipps: Weiterleiten statt abweisen

An wen weiterleiten, wenn man selber nicht weiterkommt? Bei juristischen Problemen sind etwa Verbände und Gewerkschaften Anlaufstellen, bei Mobbing ist es die Mobbing-Zentrale. Ältere Leute, die unter Einsamkeit leiden, finden Unterstützung bei der Pro Senectute. Bei psychischen Problemen können  Kriseninterventionszentren in der Region oder die Vereinigung Pro Mente Sana weiterhelfen. Geht es um fürsorgerische Unterbringung (FU) und Zwangsmedikation findet man Hilfe beim Verein Psychex. Manchmal hilft auch die Frage nach Vertrauenspersonen – vom Nachbarn über Arzt, Bekannte, Freunde, Seelsorger bis hin zum Anwalt – oder der Hinweis auf "Die Dargebotene Hand" mit dem Sorgentelefon 143.

 

 

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