Der für Locarno übliche Cocktail von Journalismus, Film und Politik erhält dieses Jahr eine besondere Note.
Von Philipp Cueni
Natürlich steht am Locarno Filmfestival der Film im Zentrum. Aber auch im Film selbst steckt eine Menge Journalismus drin – vor allem in den Dokumentarfilmen. Es sind dies oft Langzeitbeobachtungen von gesellschaftlichen Entwicklungen, welche sich der «normale» Journalismus so oft gar nicht mehr leisten kann. Langzeitbeobachtung – das heisst auch Recherche, das verlangt den journalistischen Blick, auch wenn dieser im Dokumentarfilm durchaus subjektiver sein darf als im klassischen Journalismus. Aber die Fakten müssen auch hier stimmen, eine bewusste manipulative Verzerrung der Realität würde nicht dem Genre des Dokfilm entsprechen. Und die Recherchen zu diesen Filmstoffen sind auch für Journalisten durchaus beispielhaft und lehrreich.
Der Gewinner des Goldenen Leoparden (Internationaler Wettbewerb) «Mrs. Fang», war für viele überraschend ein Dokfilm. Er beobachtet die letzten Lebensjahre einer an Alzheimer erkrankten Frau in China. Auch Dokumentarfilme zur Situation in der Schweiz sind auf grosses Interesse beim Publikum gestossen – so etwa «Willkommen in der Schweiz» von Sabine Gisiger.
Und die Reihe «semaine de la critique», kuratiert von einer Arbeitsgruppe der Filmjournalisten (Swiss Association of Film Journalists), begeistert jeden Tag das Publikum im vollen Kursaal (und enttäuscht jene, die keinen Platz mehr finden): Bei Milo Rau mit dem Kongo-Tribunal, in welcher es um das Verhalten der internationalen Rohstoffkonzerne geht. Oder beim westschweizer Samuel Chalard, der mit «Favela Olimpica» aufzeigt, wie die Stadt Rio über Jahre hinweg eine Favela-Siedlung mit intakter Quartiergemeinschaft wegen der Olympiade entgegen vertraglichen Abmachungen zermürbt und zerstört. Und in «The Poetess» zeigt eine Deutsche Produktion, wie sich eine Frau im Abu Dhabi-TV in Saudiarabien über einen Poesie-Wettbewerb für Frauenrechte einsetzt und sich gegen deshalb folgende Drohungen Drohungen behauptet.
Die Filmjournalisten organisieren nicht nur die «semaine» – vor allem berichten sie über das Festival. Die Dichte an in- und ausländischen Journalistinnen, FotografInnen, TV-Teams usw. ist beeindruckend. Dennoch ist auffallend: der Aufwand, den die Zeitungsverlage bereit sind, in die Film- und Festivalberichterstattung zu investieren, nimmt von Jahr zu Jahr merklich ab.
Ein medienpolitischer Fingerzeig. So mutete es fast ironisch an, dass ausgerechnet die Weltwoche einen Journalisten in Locarno über Tage recherchieren liess – seine voreingenommene Darstellung hätte man allerdings auch ohne Recherche schreiben können: «Hollywood der Bundesbeamten. Beim Filmfestival Locarno ist der Film auch bei seiner 70. Ausgabe bloss Nebensache. An unzähligen Partys und Empfängen klopfen sich Heerscharen von Politikern, Beamten, SRG-Leuten und Filmern auf die Schultern.» Soweit die Weltsicht der Weltwoche – naja, eigentlich eine Randnotiz.
Damit sind wir definitiv bei der Politik in Locarno. Zum Beispiel bei der Filmpolitik – wenn die Filmszene am «diner politique» gegenüber Politikern erklärt, warum der Bundesbeitrag an die Filmförderung notwendig ist. In seiner Rede an die anwesenden Bundespolitiker bringt der Filmemacher Jacob Berger gleich eine neue Forderung ein: Die neuen Fernsehanbieter, also die Internetprovider wie Swisscom, UPC oder Sunrise, sollen gegenüber der Branche Verantwortung übernehmen und in Schweizer Formate investieren – wie es die klassischen Fernsehanstalten bereits tun. Denn diese Provider-Firmen würden Millionengewinne einfahren mit Bild, Ton, Kinofilmen und Internet-TV, ohne etwas zur Entwicklung der Audiovision in der Schweiz beizusteuern. Ein solches neues Engagement wäre eine vierte Säule der Filmförderung – neben Bund, kantonalen Förderungen und SRG.
Jacob Berger wies für die Filmszene auch auf die drohende No-Billag-Abstimmung hin: «Die gesamte Filmbranche unterstützt auch in Zukunft vorbehaltlos die SRG in ihrem Bestreben nach einem starken und unabhängigen Service Public.» Denn: Wird die SRG mit dieser Volksabstimmung abgeschafft, dann verliert der Schweizer Film nicht nur einen kompetenten Partner und Coproduzenten, sondern auch Bildschirmpräsenz. Und vor allem gehen 27 Millionen verloren, welche via SRG-Gebühren an den Schweizer Film fliessen. In Locarno wurde auch wieder über die Leinwand deutlich, in welchen Schweizer Filmen, aber auch bei welchen Dienstleistungen für das Festival (z.B. bei historischen Filmausschnitten) die SRG überall beteiligt ist.
Das Thema «No Billag» war an verschiedenen Orten als Begleittext spürbar. Zum Beispiel, wenig erstaunlich, am Apero der «amici della rsi». Überraschend aber war, dass Ignazio Cassis, der Bundesrats-Kandidat aus dem Tessin, an diesem Anlass auftrat und sich mit den Amici-Exponenten fotografieren liess. Ein Zeichen, dass die FDP von der Anti-SRG-Politik der SVP Distanz genommen hat?
Auch auf der grossen Leinwand der Piazza gab es gegen «No Billag» eine Aktion. Als wie üblich zu Beginn des Piazza-Abends der Festival-Leopard über die Leinwand schritt, stockte das Bild – Flimmern, Störung. Es wurde in die Abspielkabine «geschaltet» –ein vorproduzierter Clip, in welchem ein Techniker verzweifelt nach der Ursache der Störung sucht. Und dabei den Schalter «Swiss Film / Swiss TV» auf «off» findet. Die Message war klar – das droht, wenn «No Billag» angenommen wird. Die Inszenierung der Aktion hatte «Medien für alle verantwortet».
Trotz aller Politik dominiert am Festival der Film. Sicher gibt es auch Cüpli-Anlässe, peinliche Ehrungen für verdiente Filmschaffende, für die Öffentlichkeit unsichtbare Anlässe von Firmen und viele reservierte Stühlen auf der Piazza für Sponsoren. Auch Locarno ist nicht frei von Kommerz und (ein ganz klein wenig) Glamour à la Suisse. Aber das Festival lebt dort richtig, wo Herr Müller, Frau Rossi oder Frau Rébétez als 20- oder als 75-jährige eine Stunde anstehen, um einen Film zu sehen, danach im Café darüber diskutieren und sich den nächsten Programmpunkt aussuchen. Da erlebt man viele Filmfans, sehr gut besuchte Sääle, Tag für Tag. Und damit ist «Locarno» ein beeindruckender und vielfältiger Einblick in die Schweizer Kulturszene.
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