Bruno Schletti, langjähriger Wirtschaftsredaktor beim Tages-Anzeiger, hat am 5. Februar sein Redaktionspult definitiv geräumt. In einem Brief an seine Ressortkollegen und die Chefredaktion hat Schletti seinen Abgang begründet und Kritik am aktuellen Kurs des Medienhauses formuliert. Die Folge von prominenten Abgängen beim Tages-Anzeiger ist auffallend. Wir haben nachgefragt. Von Philipp Cueni, Mitarbeit Bettina Büsser.
Es sind Abgänge von Redaktorinnen und Redaktoren beim Tages-Anzeiger, bei welchen informell oder etwas lauter auch Kritik oder zumindest Frust über die Arbeitssituation beim Zürcher Blatt mitschwingt. Und die Liste von prominenten Abgängen in den letzten Monaten ist erstaunlich lang, bekannt sind etwa die Namen von: Florian Keller, René Lenzin, Maurice Thiriet, Philipp Löpfe, David Nauer, Georg Gindely, Simone Meier, Luciano Ferrari, Seraina Kobler, Simon Schmid, Romeo Regenass, Bruno Schletti. Die individuellen Beweggründe mögen unterschiedlich sein, aber bei den meisten konnte man zumindest eine gewisse Resignation oder Enttäuschung über die eigene Arbeitssituation feststellen.
Bruno Schletti wollte bei seinem Abgang der Chefredaktion und seinen Ressortkollegen seine Unzufriedenheit mitteilen und hat diesen einen längeren Brief zukommen lassen. EDITO hat bei ihm nachgefragt.
Edito: Sie machen sich Sorgen über die Leistungsfähigkeit Ihres Ressorts, weil der Stellenetat zu klein sei. Ist er denn in den letzten Jahren derart stark reduziert worden?
Bruno Schletti: "Aktuell umfasst das Wirtschaftsressort zehn Journalistinnen und Journalisten. Dazu kommen Andreas Valda im Bundeshaus und Walter Niederberger in den USA. Rund die Hälfte dieses Teams arbeitet Teilzeit. Seit 2008 sind um die 400 Stellenprozente gestrichen worden. Zusätzlich wurden die freien Mittel gekürzt. Gleichzeitig wurde die Konvergenz vollzogen, die Zusammenlegung von Print und Online. Weniger Leute müssen heute also auch den Online-Kanal bespielen. Täglich sind zwei Wirtschafts-Leute fix in diesem Dienst eingeteilt. Als ich unlängst kurz auf der Wirtschaftsredaktion auftauchte, traf ich einen einzigen schreibenden Kollegen an. Meine Stelle ist noch nicht wieder besetzt, ein Kollege war krank, ein weiterer wegen eines Skiunfalls verletzt. Entsprechend präsentiert sich der ohnehin stark ausgedünnte Wirtschaftsbund. Täglich stösst man auf unbekannte Autoren. Oft sind das Journalisten der Süddeutschen Zeitung, von der der Tagi Wirtschafts-Artikel übernehmen kann. Man hält sich so mit Ach und Krach über Wasser.
Und Sie beurteilen die Grösse Ihres Ressorts als zu klein, um einen Wirtschaftsjournalismus auf hohem Niveau leisten zu können?
Es fallen laufend wichtige Themen durch den Raster. Als jüngst an einem Sonntag der Kompromiss zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im Konflikt um die Arbeitszeiterfassung bekannt wurde, reagierte der Tagi mit dürftigen 14 Zeilen. Die NZZ, die wirtschaftlich wesentlich schlechter dasteht als die Tamedia, widmete dem Thema den zwingend ausführlichen Artikel.
Als ich 2004 in den Tagi eintrat, waren wir zu zweit zuständig für die Finanzbranche. Der 2008 ausgetretene Kollege wurde nicht ersetzt. Seither war ich allein verantwortlich für den ganzen Banken- und Versicherungsmarkt – als ob der Finanzplatz Zürich für diese Zeitung nicht von Bedeutung wäre.
Ich stelle die Wichtigkeit des Onlinekanals nicht in Frage. Dieser Kanal ist aber nur beschränkt relevanz-orientiert. Publiziert wird, was gefällt, was Klicks erzeugt und was sich auf die Schnelle schreiben lässt. Die Wirtschaftsonliner haben die Vorgabe, täglich zwei Texte zu liefern – den ersten bis zur Mittagszeit, den zweiten im Verlauf des Nachmittags. Fundierte Recherchen sind unter diesen Bedingungen nicht möglich. Formale Vorgaben sind wichtiger als inhaltliche. Die beiden Kollegen im Online-Dienst sind in ihrer Funktion eingebunden und verknappen so die Personalressourcen im Printbereich. Damit steigt auch dort der Druck, pro Tag eine Geschichte zu liefern.
Sie kritisieren, dass die Arbeitsabläufe im Team unter der Ausdünnung gelitten haben.
So ist es. Kaum eine Morgensitzung beginnt mit der Frage: Was sind die relevanten Geschichten? Man schlägt die naheliegenden Themen vor, die sich innerhalb nützlicher Frist realisieren lassen – letztlich eine Überlebensfrage, da das Unternehmen Überstunden nicht zu zahlen gewillt ist. Honoriert wird nicht Qualität oder Engagement. Entscheidend ist am Ende des Tages, dass das Blatt voll ist. Es gibt also kein inhaltliches Teamdenken, kaum inhaltliche Diskussionen, auch werden Beiträge nicht wie früher von der Redaktion begleitet und nicht mehr gegengelesen. Die journalistische Qualität geht an allen Ecken und Enden vor die Hunde. Dennoch soll Verwaltungsratspräsident Pietro Supino unlängst im Rahmen des Schiffbau-Meetings vor versammelter Prominenz gesagt haben, die Wirtschaftsberichterstattung des Tages-Anzeigers hätte sich in den letzten Monaten zum Aushängeschild der Zeitung entwickelt. Richtig ist das Gegenteil. Seit meiner Kündigung erhalte ich aus der Leserschaft Reaktionen zu Hauf mit der Stossrichtung, man teile meine Analyse und überlege sich, ob man den Tagi noch länger abonnieren wolle. Eben hat mich ein solches Mail sogar aus Deutschland erreicht. Dazu muss man wissen, dass beispielsweise die Berichterstattung des Tages-Anzeigers zum Fall Uli Hoeness in Deutschland hohe Beachtung fand.
Intern fehlt jedes Sensorium für die Auswirkungen der verordneten Sparmassnahmen. Vor einiger Zeit lobte Supino die Redaktion im Rahmen einer internen Veranstaltung. Er kritisierte aber einen publizierten Artikel über die Geschäftstätigkeit von Holcim in Indien – basierend auf Informationen von Nichtregierungsorganisationen. Wenn schon, argumentierte Supino zur allgemeinen Belustigung der Redaktion, müsse ein solcher Artikel vor Ort recherchiert werden. Supino hat Recht. Nur gibt es erstens kein Geld, um nach Indien zu reisen und zweitens nicht die personelle Kapazität, um einen Kollegen tagelang in Zürich entbehren zu können. Das Beispiel zeigt, dass zeitaufwändige Vor-Ort-Recherchen in aller Regel nicht mehr möglich sind und auch, dass Supino die Realitäten verkennt und verdrängt.
Ist die Situation in den anderen Ressorts ähnlich?
Ja, wobei ich das nur beschränkt beurteilen kann. Das Auslandkorrespondentennetz wurde gnadenlos zusammengestrichen. Einigermassen gut funktioniert das gemeinsame Netz mit der Süddeutschen Zeitung – eine durchaus sinnvolle Massnahme, um Kosten zu sparen. Das Inland-Korrespondentennetz existiert nicht mehr. Geblieben ist einzig ein Korrespondent in der Westschweiz, aus dem Tessin berichtet ein freier Journalist. Die mit den eingeführten und wieder weggesparten Regionalredaktionen in der Zürcher Landschaft gemachten Versprechen, die Berichterstattung ausserhalb der Stadt zu vertiefen, haben sich in Luft aufgelöst.
Gerade im Wirtschaftsjournalismus ist die Unabhängigkeit enorm wichtig. Kann Ihre Redaktion völlig frei vom Druck der grossen Wirtschaftsunternehmen berichten?
Seitens der Banken gibt es regelmässig Interventionen. Damit kann ich als Journalist leben, so lange die Vorgesetzten nicht kuschen. Im letzten Sommer wurde ein von mir verfasster Artikel über die Credit Suisse nicht veröffentlicht – ohne Rücksprache mit mir und ohne dass der Entscheid mir gegenüber je begründet worden wäre. Nach meiner Kündigung im Dezember erfuhr ich dann, dass aus dem Umfeld der Bank beim Chefredaktor interveniert worden ist. Res Strehle entschied darauf hin, den Artikel nicht zu veröffentlichen. Über seine Beweggründe hüllt er sich bis heute in Schweigen.
Ihre Kritik zielt also auch auf den Chefredaktor.
Ich habe meine Kritik Strehle gegenüber direkt formuliert. Er hat zugehört und nichts geantwortet – keine Reaktion.
Wo steht denn heute der Tagi insgesamt, wie beurteilen sie seine Leistungen insgesamt, sein Profil?
Der Tagi bietet noch regelmässig journalistische Highlights – dank einzelner profilierter Journalisten und Journalistinnen und dank deren Know-how, das sie sich in besseren Zeiten aneignen konnten. Junge Kollegen haben nicht mehr die Möglichkeit, sich fundiertes Know-how anzueignen, der Druck ist zu gross. Ältere Journalisten – wie immer in solchen Situationen jene mit Alternativen, also nicht die schlechtesten – verlassen den Tagi reihenweise. Das Blatt wird qualitativ und quantitativ laufend ausgedünnt. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die anspruchsvolle Leserschaft das auf die Länge bieten lässt. Sie wird abspringen."
Und wie kommentiert der "offizielle" Tages-Anzeiger die Kritik von Schletti? EDITO hat bei Chefredaktor Res Strehle und beim Mediensprecher Christoph Zimmer nachgefragt. Zimmer kommentiert den Vorwurf von Schletti betreffend den zurückgewiesenen Artikel über die CS so: «Im angesprochenen Artikel legte Bruno Schletti der Führungsspitze der Credit Suisse indirekt den Rücktritt nahe und baute dabei unter anderem auf der Kritik eines einzelnen Kunden auf. Dieser schilderte seinen Briefwechsel mit der CS und forderte den Rücktritt von Urs Rohner und Brady Dougan. Die Ressortleitung Wirtschaft des Tages-Anzeigers hat aufgrund der zu dünnen Belege und der Vermischung von Fakten und Meinungen entschieden, den Artikel in dieser Form nicht zu publizieren.» Und zu den von Schletti erwähnten Aussagen von Pietro Supino: «Pietro Supino lobte am Treffen die Arbeit der Redaktion. Gleichzeitig betonte er die Bedeutung der Unabhängigkeit und wies darauf hin, dass sich der Tages-Anzeiger nicht von Interessensvertretern instrumentalisieren lassen dürfe. Der Tages-Anzeiger müssen mehr bieten, sei es mit eigenen Recherchen vor Ort, Gesprächen mit weiteren Akteuren oder Gesprächen mit Beobachtern. Es ist nie einfach, Zeit für aufwändige Recherchen zu finden. Der Tages-Anzeiger stellt aber Mittel für ausgedehnte Recherchen zur Verfügung, arbeitet in Netzwerken mit anderen Zeitungen zusammen und Tamedia investiert gezielt in die Aus- und Weiterbildung von Recherchejournalisten.»
Res Strehle hat bisher nicht Stellung genommen.
Schletti ist jedoch mit seinen Wahrnehmungen nicht allein.
Claudia Kühner, frühere "Tages-Anzeiger"-Auslandredaktorin: "Im "Tages-Anzeiger" wurde gewaltig gespart, mit Folgen auch für die personelle Ausstattung der Ressorts. Die damit einhergehende Qualitätseinbusse wird in Kauf genommen. Es fällt auf, wie viele Kollegen auch im höheren Alter den "Tages-Anzeiger" verlassen oder verlassen wollen. Doch diese Fluktuation scheint die Führungsebene ebensowenig zu beunruhigen."
Romeo Regenass war bis Ende 2013 "Tages-Anzeiger"-Wirtschaftsredaktor, heute arbeitet er in einer Kommunikationsagentur: "Zu den aktuellen Ressourcen des Wirtschaftsressorts kann ich nichts sagen, denn sie haben seit meinem Abgang nochmals abgenommen. Doch auf der Redaktion findet seit Jahren ein kontinuierlicher Abbau statt, der sich unweigerlich in der Qualität niederschlägt. Der Tagi hat sich früher sehr stark durch die Dossierkenntnisse der einzelnen Redaktorinnen und Redaktoren ausgezeichnet, heute ist dies gezwungenermassen immer weniger der Fall. Das ist meiner Einschätzung nach der grösste Nachteil des Ressourcenabbaus."
Heinz Girschweiler, früherer "Tages-Anzeiger"-Redaktor und bis vor kurzem Leiter des Korrektoren-Teams, das im letzten Jahr eine deutliche Lohnkürzung hinnehmen musste: "Die allgemeinen Feststellungen in Bruno Schlettis Abschiedsbegründung würde ich unterschreiben, zum Ressort Wirtschaft kann ich nichts sagen, da ich keinen Einblick hatte. Grundsätzlich findet beim "Tages-Anzeiger" eine Entfremdung statt: Viele in der Redaktion identifizieren sich nicht mehr so mit dem Produkt wie früher, und sie identifizieren sich schon gar nicht mehr mit dem Unternehmen. Das Angebot das "Tages-Anzeigers" ist dünner geworden, auch wenn der Verwaltungsrat jedes Mal nach einer Sparrunde findet, es habe sich verbessert."
Im letzten August sagte Florian Keller zu EDITO (Nummer 5/14, "Tschüss Traumjob"): "Wenn man sich sieben Jahre lang mit immer neuen Sparmassnahmen und anderen Baustellen herumschlagen muss die oft von weit oben beschlossen wurden, wächst das Bedürfnis, an einem Ort zu arbeiten, wo man den Kurs selber mitbestimmen kann." Er wechselte zur WOZ. Und René Lenzin sagte im gleichen Artikel, weil die Ressourcen zurückgingen, sei dies mit Unsicherheit verbunden und der Druck würde in Zukunft noch zunehmen.
Auch wenn das kritische Einzelstimmen sind fragt sich, ob diese ein Unbehagen formulieren, welche in der Redaktion weiter verbreitet ist. Andrea Fischer, Präsidentin der Personalkommission, sagt dazu: "Ja, das Unbehagen über den schleichenden Abbau von Personal und Ressourcen ist verbreitet. Die quantitativen Anforderungen sind dadurch ja nicht zurück gegangen. Im Gegenteil: Der Produktionsdruck steigt ständig. Auch Kolleginnen und Kollegen, die den Ruf haben, sehr leistungsfähig zu sein, klagen zunehmend über die stark gestiegene Belastung. Das ist schon alarmierend." Und was sagt Andrea Fischer zu unserem Eindruck, dass viele Mitarbeitende "von oben" Wertschätzung vermissen: "Wenn man von den Mitarbeitenden immer mehr Leistung verlangt, dann ist es tatsächlich schwierig, darin eine Wertschätzung für die geleistete Arbeit zu erkennen. Letztlich sprechen die zahlreichen Kündigungen ja auch für sich."
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03.03.2015