Von Bettina Büsser
Journalistinnen und Journalisten tun es von jeher: Sie sortieren Themen, Inhalte und Agenturmeldungen, gewichten und lesen aus, was ihrer Einschätzung nach wichtig ist und für ihr Publikum relevant und interessant sein könnte. Kurz: Sie «kuratieren». Bloss nannte man bisher das eher «redaktionelle Arbeit».
Heute gilt Kuratieren als einer der Trends im digitalen Journalismus. Dabei spielt wohl eine Rolle, dass es nicht traditionelle, bestehende Medien waren, die diese Dienstleistung – «Unsere Algorithmen und wir durchsuchen das Netz und liefern Ihnen die wichtigsten Links» – lancierten, sondern Startups wie «Blendle», «Niuws» (heute «Scope») und «piqd». Es hängt auch damit zusammen, dass traditionelle Medien bisher zwar Newsletter mit den wichtigsten Themen zusammenstellten, dabei aber ausschliesslich auf eigene Inhalte verlinken. Und dass diese «Best of»-Listen automatisch generiert werden, während die Kuratier-Unternehmen auch noch menschliche Kuratiererinnen und Kuratierer einsetzen.
«Fundstücke aus dem Netz». Der «Tages-Anzeiger » hat nun neu erstmals einen Newsletter im Angebot, der mit dem Begriff «kuratiert» beworben wird: «Der Morgen». Er ersetzte den bisherigen Newsletter, der automatisch zusammengestellt wurde. «Der Morgen », von 20 Journalistinnen und Journalisten abwechslungsweise «persönlich kuratiert», soll einen Nachrichtenüberblick verschaffen und «Einordnung und Orientierung» bieten. Neu daran ist zudem, dass die Liste unter dem Stichwort «Fundstücke aus dem Netz» auch Links auf Beiträge enthält, die nicht aus dem Hause Tamedia stammen.
Bereits im Oktober hatte Tamedia ein Angebot lanciert, das sich nicht auf ein einzelnes Produkt des Hauses beschränkt: Ab 12 Uhr bringt die 12-App Links auf die «zwölf besten Geschichten aus den Tamedia-Redaktionen». Laut Christoph Zimmer, Leiter Kommunikation Tamedia AG, sind 12-App und «Der Morgen » die einzigen kuratierten Angebote von Tamedia, auch wenn er anmerkt, dass der Begriff des Kuratierens «nicht ganz trennscharf» sei und «die Auswahl und Gewichtung von Inhalten, wie man Kuratierung auch definieren könnte, jeher zur Kernaufgabe von Medien» gehöre.
Tamedia verwendet laut Zimmer den Begriff «kuratiert» heute für Angebote, bei denen die Redaktion eine gezielte Auswahl aus einer grösseren Menge bereits produzierter Inhalte zusammenstellt. Deshalb zählt er das neue Digitalabo in der Romandie, «Le Matin du Soir», nicht zu den kuratierten Angeboten, «da dafür auch exklusiv Artikel und weitere Inhalte erstellt werden». Doch seien weitere kuratierte Angebote denkbar: «Es gibt verschiedene Ideen, welche wir wann realisieren, ist aber noch offen», so Zimmer.
Nützliche Fremd-Links. «Die meisten Journalisten haben das Wort ‹kuratieren› jahrelang nicht in den Mund genommen, aber inzwischen erkennen sie, dass auch der ‹Fremd-Link› wertvoll sein kann», kommentiert Peter Hogenkamp die neuen Angebote von Tamedia. Er ist Geschäftsführer der Scope Content AG, die den Kuratierdienst «Scope» (vormals «Niuws») anbietet. Hogenkamp fügt hinzu, man könnte «etwas böse sagen», beim «Tages-Anzeiger» wundere es einen am wenigsten, weil man es auch als Sparmassnahme interpretieren könne. Hogenkamp hält es aber für grundsätzlich richtig: «Lange Zeit haben ja die meisten Medien-Websites nie nach aussen verlinkt, was sich zum Glück inzwischen geändert hat.»
Hogenkamp hat «Niuws» Anfang 2015 auf den Markt gebracht (vgl. EDITO+Klartext 5/2015), der Name wurde kürzlich auf «Scope» geändert, «weil die Schreibweise des alten Namens einfach nicht vermittelbar war». «Scope» bietet viele verschiedene thematische «Boxen» an und hat laut Hogenkamp inzwischen 12 000 aktive User sowie zehn Firmenkunden, die die entsprechende Software lizenziert haben und als Absender einer solchen «Box» auftreten: «Das läuft gut, auch wenn wir natürlich noch nicht break-even sind. Wir haben aber seit diesem Jahr ein neues Team und neue Aktionäre und wachsen jetzt sehr schnell.»
Kuratierdienste wie «Scope» verlinken immer nach «aussen», weil sie selber keine Inhalte produzieren. Medienhäuser hingegen wollen ihre eigenen Leistungen vermarkten und nicht diejenigen potentieller Konkurrenten, deshalb ist ihre Zurückhaltung beim Setzen von Fremdlinks verständlich. Doch, so Hogenkamp, es gelte ein Satz des Web-Vordenkers Dave Winer: «People come back to places that send them away.» Bestes Beispiel dafür sei Google, dort optimiere man sogar darauf: «Wenn ich Informationen suche, bin ich gern möglichst schnell wieder weg.»
Produkte werden schlechter und teurer. Hogenkamp glaubt – natürlich – «hundertprozentig» an Kuratierung als Modell: «Die Verlage müssen sparen und zugleich mehr Einnahmen im Lesermarkt generieren, deshalb werden ihre Produkte tendenziell leider schlechter und teurer.» Gleichzeitig gebe es aber enorm viele Inhalte im Netz, aus Blogs, Corporate Publishing, Content Marketing; neue Inhaltsanbieter würden in die Bresche springen: «Weil aber die Absenderglaubwürdigkeit nicht mehr so einfach zu erkennen ist, braucht es Experten, die sich mit dem Thema auskennen und den Inhalt sozusagen mit einem Qualitätsstempel versehen.»
Wenn Experten einen «Qualitätsstempel» auf Corporate-Publishing- und Content-Marketing-Inhalte setzen können, können sie es auch bei Native-Advertising-Inhalten tun? Natürlich funktioniere «native» auch beim Kuratieren, wenn man es klar deklariere, findet Hogenkamp: «Die Medienwelt hat sich verändert, die Vielfalt von Quellen ist so gross, dass ich bei den Konsumentinnen und Konsumenten inzwischen voraussetzen kann, dass sie das verstehen.»
Neben Hogenkamps «Scope» ist seit einem Jahr im deutschsprachigen Raum auch der deutsche Kuratierdienst piqd aktiv, der momentan zum Beispiel auf Facebook als «deine Programmzeitung für guten Journalismus» intensiv bei Schweizer Accounts wirbt. Laut David Simeth, Projektmanager piqd GmbH, hat der Dienst bisher knapp 20 000 Abonnentinnen und Abonnenten, die ihn gratis beziehen.
Gesucht: nachhaltiges Geschäftsmodell. «piqd» steht nur bedingt unter wirtschaftlichem Druck, denn Gesellschafter ist Konrad Schwingenstein, der Enkel eines Mitgründers des Süddeutschen Verlags. Er ist auch Hauptinvestor der «August Schwingenstein Stiftung», die «torial.de», eine Plattform für freie Journalisten, betreibt (siehe EDITO 5/16). «Für den Moment trägt der Investor die Kosten alleine. Wir bemühen uns, ein tragfähiges, nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln, das uns unabhängig macht von Investorengeldern», sagt Simeth. Aktuell sind rund 150 Kuratorinnen und Kuratoren (bezahlt) für «piqd» tätig, meist mehrere pro Thema.
Kuratierangebote wie «piqd» und «Scope» gehen davon aus, dass ein menschlich-journalistischer Blick nach wie vor wichtig ist. «Nach der US-Wahl ist die ‹Filter Bubble› in aller Munde», sagt denn auch Hogenkamp. Algorithmen hätten in vielen Situationen ihre Berechtigung, doch es helfe, wenn da auch noch «ein nach Möglichkeit journalistisch vorgebildeter Mensch» sei, der wisse: «Es gibt dazu noch eine andere Meinung, die ich berücksichtigen sollte.» Das Zusammenspiel von menschlichen Kuratoren und Algorithmen, die vorselektieren, schaffe den grössten Mehrwert für die User, sagt Hogenkamp.
Das scheint auch «Der Morgen» bei Tamedia zu zeigen: «Bisher wurde der ‹Tages-Anzeiger›-Newsletter automatisch zusammengestellt. Seit er täglich von Hand von der Redaktion kuratiert und mit einem begleitenden Text ergänzt wird, ist die Nutzung stark gestiegen. Die Öffnungsrate hat sich teilweise verdreifacht », sagt Christoph Zimmer.
Lanciert und wieder eingestellt. Die Erfahrungen der NZZ sehen jedoch etwas anders aus. Zwar hat die NZZ laut Myriam Käser, Leiterin Unternehmenskommunikation der NZZ-Mediengruppe, keine Angebote, die explizit mit dem Begriff «kuratiert» bezeichnet oder vermarktet werden. Doch hat die NZZ im Frühling 2015 die App NZZ Selekt mit täglich zehn «handselektierten NZZ-Artikeln» lanciert. Sie wird jedoch auf 2017 eingestellt, weil die NZZ laut Käser festgestellt hat, dass «eine solche App nicht der richtige Weg ist, um neue Lesergruppen zu gewinnen». Zu diesem Schluss seien auch die meisten anderen Medienunternehmen gelangt, die eine ähnliche App – etwa «NYT Now», «Welt Kompakt» oder «NRC Reader» – lanciert und inzwischen wieder eingestellt hätten.
Nach wie vor gibt es aber verschiedene NZZ-Newsletter, die abonniert werden können. Käser: «Die sind insofern kuratiert, als sie Schwerpunkte setzen und eine Artikelauswahl präsentieren.» Es sind kostenlose Abos – denn «Newsletter oder etwa auch Posts auf Social Media fokussieren auf Reichweite», sagt Käser: «Es geht also darum, möglichst viele Menschen für unseren Journalismus zu begeistern, damit sich diese in einem nächsten Schritt bei uns registrieren und schliesslich zu zahlenden Kunden werden.»
Wer den «Tages-Anzeiger»-Newsletter «Der Morgen » abonniert, wird via die Links bei Gelegenheit auf die «Tagi»-Paywall stossen, denn die verlinkten Artikel sind, so Zimmer, «genauso Teil des Bezahlangebots wie alle anderen Inhalte». Und genau hier, bei den Paywalls, könnten Kuratierdienste an Grenzen stossen: Je mehr Paywalls es gibt – und immer mehr Medienhäuser wollen mit ihren Inhalten online auch Geld verdienen –, desto weniger potentielle Inhalte sind für die Kuratierer und ihre Abonnenten gratis zugänglich. «Stimmt», sagt Hogenkamp. Doch es gebe in der Schweiz kaum «harte» Paywalls, «und auf eine ‹metered› Paywall, wie es sie bei ‹Tages-Anzeiger› und der NZZ gibt, kann ich gut verlinken».
Ist der kuratierte «Morgen» des «Tages-Anzeigers» erfolgreich, werden wohl andere Redaktionen nachziehen – und zu den Aufgaben der Journalisten kommt als weitere die Kuratierung hinzu. «Nachdem ‹Kuratieren› als Begriff seit zehn Jahren auch für journalistisches Verlinken verwendet wird, ist es nun bei vielen Verlagen angekommen», sagt Hogenkamp. Doch natürlich werde es für die meisten nur eine Ergänzung sein: «Nicht alle können nur kuratieren, irgendwer muss ja auch noch Artikel schreiben.»
Bettina Büsser
Redaktorin EDITO
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