Eine Beobachtung beim Tages-Anzeiger von Philipp Cueni
Sesseltausch – und Edito beobachtet. Es wurde am Montag vom Tagi selbst mit einer einseitigen Anzeige angekündigt: Die Kommunikationswissenschafterin Miriam Meckel übernimmt für eine Woche die Chefredaktion des Tages-Anzeigers, Res Strehle unterrichtet während diesen Tagen an der Hochschule in St. Gallen. Als diese Idee im Rahmen einer Tagung entstand, war EDITO dabei – und beobachtet jetzt Miriam Meckel auf der Tagi-Redaktion*.
Zum Auftakt ihrer Woche als Chefredaktorin sitzt Miriam Meckel in die erste Planungssitzung von Montag 9 Uhr rein, dann gleich in die zweite. Sie hört zu, beobachtet, fragt hier einmal nach, unterstützt dort einen Vorschlag. Die Sitzungsleitung liegt beim Tagesverantwortlichen. Dann kurzer Rückzug ins Büro des Chefredaktors, sie will sich noch für dies und das vorbereiten, Versuch, Strehles Kaffeemaschine zum Laufen zu bringen. Dieser ist während der ganzen Woche in St. Gallen.
Miriam Meckel hat keine betreuende Begleitperson zur Seite, sucht sich selbst durch die Gänge und vor allem durch Ablauf- und Sitzungsstrukturen. Ob sie bis Ende Woche überhaupt einmal den Grossteil der Redaktion kennen gelernt hat? Da eine Sitzungsrunde, dort eine Ressortbesprechung, etwa 40 Personen an den Arbeitsplätzen im Newsroom, und viele Redaktoren, welche an aktuellen Geschichten arbeiten, sieht man gar nicht. Die Ressortleiter, Tagesleiter, Mitglieder der Chefredaktion, respektive deren Stellvertreter-innen, wechseln sich an den Sitzungen laufend ab, Kolleginnen und Kollegen von Print und Online sind seit der Konvergenz bunt gemischt. Es ist nicht leicht, sich über Abläufe und Personen sofort einen Überblick zu schaffen. Aber, hat der Beobachter den Eindruck: Meckel ist wach, präsent, interessiert. Und die Redaktion scheint sie in ihrer Rolle zu begrüssen, die "Fremde" kommt erst mal gut an. Das auffallend offene, sachliche und angenehme Gesprächsklima an den Sitzungen macht ihr den Einstieg leicht. Und sie sucht den Kontakt. "Wäre ich hier wirklich Chefredaktorin, würde ich ein Büro direkt beim Newsroom bevorzugen" sagt sie einmal später.
Bereits am ersten Tag – und dann die ganze Woche über – soll sie die Blattkritik machen. Auch schon am ersten Tag soll sie den Tageskommentar schreiben. Thema ist die männerlastige historische Dok-Reihe bei SRF. Bereits am zweiten Tag geht es um die Samstags-Nummer, bei dieser soll Meckel deutliche Akzente setzen. Das Hauptthema und das spezielle Konzept für Samstag ist ihre Idee. Und hier bringt sie sich bereits offensiver ein: entscheidet auch mal bei Details, sucht am Ende der Sitzung nochmals das Gespräch mit einem Kollegen, dessen Idee am Sitzungstisch abgeblitzt ist. Mit dem Chefgestalter diskutiert sie Layout-Varianten, die er bereits vorlegt.
Auch am zweiten Tag ist Meckel den ganzen Tag über präsent. "Kann ich um halb Acht weg zu einem Nachtessen?" fragt sie die Tagesverantwortlichen. "Kein Problem, dann steht die Planung" heisst es noch um 18 Uhr, als man die IT-Störung als kurze Unterbrechung interpretiert. Es kommt anders, Meckel kehrt zurück und bleibt wegen der massiven technischen Panne bis tief in die Nacht.
Die Redaktion nimmt die Idee einer mal anders konzipierten Samstags-Ausgabe auffallend positiv auf: Es werden Vorschläge gemacht, Ideen diskutiert, Abklärungen getroffen. Der Unterbruch zur Routine, das Denken in einmal etwas anderen Dimensionen scheint willkommen – trotz den normalen Abläufen, die auch diese Woche zu bestehen sind. Die Samstags-Ausgabe ist das eine Thema, das die Woche von Miriam Meckel über die Tagesproduktion hinaus ständig begleitet. Das zweite Thema ist die Verschränkung der Themen in der Zeitung und auf Online. Das ist seit der kürzlichen Einführung der Konvergenz ohnehin ein feses Thema an den Redaktionssitzungen. Hier steuert die Spezialistin für Online-Journalismus Fachwissen bei.
Beobachtet man die Abläufe in Redaktion und Produktion, so wird schnell klar: Natürlich funktioniert das alles bestens, auch wenn der Chefredaktor mal eine Woche in den Ferien ist. So gesehen hat Miriam Meckel leichtes Spiel. Aber eigentlich ging es beim "Sesseltausch" ja vor allem darum, dass die Kommunikationswissenschafterin einen vertieften Einblick in die Praxis erhalte.
Meckel relativiert dann auch im Gespräch: "Ich bin ja keine Chefredaktorin. Ich will auch nicht so tun, als wär ich sie. Und ich will mit der speziellen Konzeption für die Samstags-Ausgabe auch nicht den Eindruck erwecken, als wüsste ich, wie die Zeitung der Zukunft zu konzipieren sei. Aber ich denke, Inputs von Aussen tun einer Redaktion immer gut – und solche holt sich die Tagi-Redaktion offenbar immer wieder, nicht nur von mir. Und dann ist die Veränderung der Tageszeitung ein Thema, mit dem ich mich als Wissenschafterin beschäftige. Möglich, dass bei der gedruckten Zeitung die Samstags-Ausgabe wichtiger wird und dort auch vermehrt auf Hintergrund gesetzt wird".
So gesehen kann das Projekt der speziellen Samstags-Ausgabe in der Redaktion durchaus auch grundsätzliche Überlegungen anregen.
NÄCHSTER TEIL: Die Sicht der Redaktion.
*Der EDITO-Redaktor hatte während dieser Sesseltausch-Woche Zugang zu Redaktion und Sitzungen. Er verpflichtete sich, in dieser Zeit das Redaktionsgeheimnis einzuhalten und einige Spielregeln zu beachten.
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