Nathalie Herschdorfer, seit 2022 ­Direktorin des kantonalen Museums für Fotografie Photo Elysée in Lausanne. (Foto: William Gammuto)

Aktuell – 13.05.2024

«Trotz allem glauben wir weiterhin an Bilder»

Nathalie Herschdorfer ist die erste Direktorin von Photo Elysée in Lausanne. Sie stellt den Fotojournalismus und die aktuellen Herausforderungen ins Zentrum ihrer Institution. Dazu gehört auch die Heraus­forderung durch die künstliche Intelligenz.

Von Gilles Labarthe 

Wie kamen Sie an die Spitze von Photo Elysée?

Nathalie Herschdorfer: Ich habe einen Hintergrund in Kunstgeschichte, aber ich arbeite schon seit langem mit Bildern, mit einem Schwerpunkt auf Fotografie. Meine Ankunft bei Photo Elysée im Sommer 2022 fiel zusammen mit der Einweihung des neuen Gebäudes und dem Start der Plateforme 10, die auch das Museum der schönen Künste und das Kantonale Museum für Design und zeitgenössische angewandte Kunst (mudac) vereint. Das bildet einen ganz anderen Kontext als der frühere Standort des Musée de l’Elysée, wo ich zuvor viele Jahre gearbeitet habe.

Was hat sich ausserdem geändert?

Mit Plateforme 10 befinden wir uns in einer neuen Konfiguration, mit einer anderen Organisation, anderen Programmierungs- und Reflexionsperspektiven, die die drei Museen zusammenbringen. Ich mag keine geschlossenen Boxen. Die Fotografie hat natürlich ihren Platz im Bereich der schönen Künste, aber auch als Bild, das uns zum Nachdenken über die zeitgenössische Welt anregt. Und ich verstehe Fotografie in einem breiten Sinn, denn Bilder werden produziert, um über die Welt zu sprechen.

Seit Ihrem Amtsantritt haben Sie grossen Wert auf Arbeiten gelegt, die einen Blick auf die aktuellen Geschehnisse werfen, unter anderem mit einer Ausstellung, die den Krieg gegen die Ukraine thematisiert. Gibt es weitere Beispiele?

Die Ausstellung, die Richard Mosse gewidmet ist, ­einem irischen, konzeptuellen Dokumentarfotografen. Ich verfolge seine Arbeit schon lange. 2006 war eine meiner ersten grossen Recherchen den Kriegsbildern gewidmet. Ich habe beobachtet, dass viele ehemalige Fotografen und Fotojournalisten auf die Seite von Ausstellungen und Galerien wechselten, darunter etwa Luc Delahaye, ein französischer Kriegsfotograf, Preisträger des Prix Niépce 2002. Er präsentierte nicht mehr eine Reihe von Bildern, um eine Krisensituation aus allen Blickwinkeln zu zeigen, sondern zeigte ein starkes Bild, um ein grosses Ereignis darzustellen …

Richard Mosse hat 2023 genau diese Verschiebung vollzogen: Er war Kriegsfotograf, begann sehr jung im Irak, dann in Afrika, mit dem Bürgerkrieg in der Demokratischen Republik Kongo und der Emigration … Und heute, während er immer noch bei einer fotojournalistischen Herangehensweise bleibt, kommt er mit kontemplativeren Bildern daher, die man nicht in der Presse finden würde, aber die man in einem Museum schätzen kann. Sie haben die Absicht, uns zum Nachdenken anzuregen und uns vom Zustand der Welt zu erzählen.

Richard Mosse verwendet thermische und multispektrale Kameras.

Richard Mosse verwendet thermische und multispektrale Kameras.

Richard Mosse zeigt uns auch Bilder eines anderen Konflikts: Bilder der Entwaldung und eines blutenden Amazonas …

Heute arbeiten viele Kriegsfotografen am Thema Klima­notstand. Mosse verwendet thermische und multi­spektrale Kameras, die auf Infrarot- und Ultraviolettlicht basieren. Das sind starke, ästhetisierende Mittel und sehr konstruierte Bilder … ähnlich wie bei Salgado, um die Hungersnot in Somalia zu thematisieren. Er verwendet auch Schwarz-Weiss-Bilder, die «klassischer» erscheinen oder sich auf die Ästhetik des Westerns ­beziehen. In seinen Bildern finden sich auch Formen von Feldreportagen. Dieses Spiel mit vielfältigen Referenzen, das man auch in der Malerei finden kann, ist auch ein Weg, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, Verbindungen zu suggerieren. Es ist eine Strategie, die im Grunde ziemlich relevant ist und eine sehr starke Wirkung erzielt.

In einem Interview mit RTS sprachen Sie davon, dass Sie «über das nachdenken, was uns die neuen Technologien und neuen Medien in Kriegszeiten bringen». Die Technologien entwickeln sich sehr schnell, aber es gibt trotzdem eine Kontinuität: die Suche nach Wirkung?

Seit dem 19. Jahrhundert entwickelt sich die Fotografie von einer Technik zur nächsten. Weil jede Technik eine bestimmte Art von Bildern erschafft, beeinflusst sie auch unsere Art, die Welt zu sehen. Trotz eines stetigen und immer grösser werdenden Stroms von Bildern werden wir immer noch genauso von ihnen beeinflusst: Wir wollen «daran glauben», wir nehmen sie auf, wir stellen sie selber her … Auch wenn wir uns heute alle bewusst sind, dass es mit unseren Mobiltelefonen nicht mehr nur eine Sache für Profis ist, Filter anzuwenden, zu beschneiden, zu bearbeiten, Collagen zu erstellen, zu manipulieren, KI zu verwenden …, glauben wir weiterhin an Bilder, auch an die in sozialen Netzwerken. Im Rahmen einer anderen Ausstellung im Raum Signal L haben wir die Arbeit des Lausanners Mathieu Bernard-Reymond vorgestellt, eines Künstlers, der mit KI, generativen Technologien und der ­Manipulation von Daten kreativ ist. Wir müssen uns auch mit diesem Thema befassen, das hochaktuell ist und natürlich unter anderem das Umfeld der Fotografie ­herausfordert.

Wie kann man angesichts all dieser Entwicklungen die Arbeit und den professionellen Ansatz von ­Foto­journalisten heute noch verteidigen?

Ich denke, dass man die Feldfotografie weiterhin verteidigen muss, da sie wichtig ist. Aber man kann all die anderen Arten von Bildern nicht ignorieren. Auch nicht das, was vor 20 Jahren mit dem Aufkommen der Digitaltechnik geschah. Ich denke etwa an all die ­Bilder, die von Amateuren auf der Strasse während der Anschläge vom 11. September 2001 in New York produziert wurden und die Praktiken der Fotojournalisten durcheinanderbrachten. Dasselbe gilt für die Bilder des Tsunami im Jahr 2004 oder die Bilder, die während des Arabischen Frühlings in Kairo aufgenommen ­wurden.

Heute müssen professionelle Reporter all diese anderen Bilder berücksichtigen, die in einem ständigen Strom und in Echtzeit eintreffen. Und sie sind da, um uns zu helfen, Abstand zu gewinnen über einen längeren Zeitraum und mit Reflexion. Viele recherchieren, bevor sie ins Feld gehen, und haben schon vorab viel Wissen über die Konfliktsituationen, über die sie berichten. Ihre Arbeit bringt eine Subtilität mit sich, die man anderswo nicht findet, zielt auf eine Wirkung ab und trägt dazu bei, uns aufzuschrecken, wie es ­Richard Mosse tut und wie es ein Journalist tun würde.

Haben Sie noch weitere Projekte in dieser Richtung?

Die Künstlerin, die wir für den Prix Elysée 2023 ausgewählt haben, greift ein hochaktuelles Thema auf: Debi Cornwall war Anwältin, bevor sie Fotografin wurde. Sie hat die Arbeit «Beweisen für die Wahrheit» geschaffen über die Wahrhaftigkeit von Bildern, Staatsbürgerschaft und politischen Kampagnen in einer Welt von Fake News. Das Endergebnis erscheint diesen Sommer. Als Fotomuseum müssen wir allen produzierten Bildern Aufmerksamkeit schenken, selbst denen, die von Überwachungskameras stammen. Und wir wünschen uns, dass Photo Elysée eine Vermittlerrolle einnimmt, ein Ort an der Schnittstelle der Disziplinen wird, ein Ort der Reflexion, um diese Forschungen und aktuellen Fragen einem breiteren Publikum zugänglich machen zu können.

Sie legen auch Wert auf die Bildung im Bereich der Fotografie …

Das tun wir in Form von Konferenzen, Workshops, Begegnungen und Masterclasses, die ich in Zukunft gerne mit professionellen Fotografen entwickeln möchte. Wir planen, uns an Teenager, junge Erwachsene, die Generation Z zu wenden, die mit dem Internet aufgewachsen ist und ständig das Handy in der Hand hält, um besser zu verstehen, wie sie Bilder wahrnehmen und was unsere Generation ihnen bringen kann.

Glauben Sie, dass es in der Beziehung dieser Generation Z zu Bildern eine Verletzlichkeit gibt?

Verletzlichkeit, ja, aber auch ein Bewusstsein für die Macht der Bilder, die wir nicht unterschätzen dürfen. Sie können sie machen, herstellen, inszenieren, ver­teilen … mit einem extrem entwickelten Auge, und sie wissen sehr gut, wie sie sie weit verbreiten können. Auch von ihnen können wir noch einiges lernen. Aber es gibt noch andere grosse Themen, die uns beschäftigen, zum Beispiel in Bezug auf Inhalte, die in sozialen Netzwerken gepostet werden, wie das Urheberrecht, das Recht auf das Bild der abgebildeten Personen, ­digitale Veränderungen, Manipulationen und Fabrika­tionen … Hier befinden wir uns auf sehr glattem Terrain, mit Rechtsebenen, die sich enorm bewegen. Was ­können wir zeigen, wie weit können wir gehen?

Und die KI beschleunigt das Tempo …

Die KI greift in alle Bereiche ein. Diesen Sommer werden wir das Nachdenken über die Digitalisierung mit der Schweizer Künstlerin Tamara Janes fortsetzen. Sie fotografiert nicht selbst, sondern arbeitet mit der Picture Collection der New York Public Library. Mit ihrem Blick wählte sie bestimmte Bilder aus und kopierte sie auf ihren Computer und bearbeitete sie, ordnete sie neu an, veränderte sie nach ihren Vorlieben … und fragte dann einen Anwalt, wann man davon ausgehen könne, dass diese Bilder nach ihrem Eingriff ihr gehörten, wann sie so stark verändert waren, dass sie zur ­Urheberin wurde. Die Frage der Wiederaneignung, ­ihrer rechtlichen Folgen und des Urheberrechts steht im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Forschung.

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