"Haltung zeigen": Anja Reschke vom ARD-Politmagazin "Panorama"

Flüchtlingsfrage – 10.12.2015

Und plötzlich ist Haltung sichtbar

Eine Journalistin fordert in der Tagesschau "einen Aufstand der Anständigen". Diese Stellungnahme in der Flüchtlingsfrage war der Anfang einer  Bekenntniswelle zur Solidarität mit Flüchtlingen in den Medien Deutschlands. Wie parteiisch soll, darf Journalismus sein?

Von René Martens

Zur Flüchtlingsfrage werde in den meisten Medien ein einseitiger und unkritischer "Überwältigungsjournalismus" praktiziert, kritisiert NZZ-Autor Heribert Seifert. Und NZZ-Medienredaktor Rainer Stadler bemängelt die verlorene Distanz des Journalismus und eine "Verengung der Information zur emotional aufgeladenen Kampagne". Tatsächlich versuchten
viele Medien, Verständnis gegenüber der Not der Flüchtlinge zu wecken.
Die Hilfeleistungen aus der Bevölkerung wurden gelobt, die zum Teil krasse Ablehnung der Flüchtlinge verurteilt.

In Deutschland ist der Zustrom von Flüchtlingen besonders gross und das Verhalten der Medien pointierter. Entsprechend ist die Mediendebatte im nördlichen Nachbarland besonders interessant.

Dass öffentlich-rechtliche TV-Journalisten dazu auffordern, eine bestimmte politische Haltung zu demonstrieren, kommt selten vor. Anja Reschke, die beim ND R in Hamburg die Abteilung Innenpolitik leitet und das prominente Politmagazin "Panorama" moderiert, hat dies Anfang August in den "Tagesthemen" der ARD getan. Ihre Forderung richtete sich gegen Verfasser hetzerischer Kommentare. Man müsse "Haltung zeigen" gegenüber jenen, die im Internet proklamierten, dass Flüchtlinge "verjagt, verbrannt oder vergast werden sollten", sagte sie in einem Kommentar. So könne es nicht weitergehen mit den Äusserungen des Hasses gegen Flüchtlinge. Man müsse die Mehrheitsverhältnisse wieder klar machen und auch in den Medien jenen eine Stimme geben, die nicht hetzen und hilfsbereit seien.

Dieser Kommentar von Anja Reschke hat in den Medien wie auch beim Publikum eine enorme Beachtung erfahren. Gegenüber Edito+Klart ext sagt Reschke, sie habe sich damals "nur mit einem kleinen Ausschnitt des Themas beschäftigt, nämlich der unerträglichen Hetze im Internet". Mehr könne man in einer Minute und 40 Sekunden gar nicht abdecken. Dennoch sei ihr Kommentar wahrgenommen worden als großer, allumfassender Meinungsbeitrag zur Flüchtlingspolitik. Der nicht alltägliche Tonfall hat womöglich dazu beigetragen.

Rund eine Woche später sprang der Spiegel-Online-Kolumnist Georg Diez Reschke bei, als er schrieb, die  Flüchtlingspolitik gehöre heute zu jenen Themen, die "zu gross und zu wichtig" seien, "als dass der Journalist sich hinter seiner eigenen Automation und Gefühllosigkeit verschanzen kann". Er erinnerte daran, dass der frühere "Guardian"-Chefredakteur Alan Rusbridger kürzlich kritisiert habe, der Journalismus habe den Klimawandel lediglich als ein Thema unter vielen behandelt.

"Moralische Ekstasen". Wie viel Gefühl ist erlaubt im Journalismus? Heribert Seifert hat die Berichte deutscher Journalisten über die Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen, die zumindest für kurze Zeit das mediale Bild prägte, vehement kritisiert. "In moralische und emotionalen Ekstasen" hätten sich die Berichterstatter hineingesteigert. Froben  Homburger, der Nachrichtenchef der Agentur dpa, schreibt dagegen in einem nüchternen Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ): Auch in der Berichterstattung von Nachrichtenagenturen schlössen sich "pedantisch genaue" Beobachtungen und "Emotionalität" keineswegs aus.

Wie viel Distanz ist im Journalismus nötig und wie viel Nähe in der Berichterstattung erlaubt? "Ein Zuviel des Guten entsteht dann, wenn Journalisten befangene Akteure werden" und "Kampagnen organisieren", bemerkte Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der "Zeit", Anfang Oktober im Editorial einer Schwerpunktnummer der Wochenzeitung. Etwas mehr als ein Drittel der gesamten Ausgabe bestand aus Beiträgen, in denen Flüchtlinge
selbst zu Wort kamen.

"Kampagne" ist ein dehnbarer Begriff. In Berlin veröffentlichte die Regionalausgabe der sonst oft Stimmung gegen Asylbewerber entfachenden "Bild-Zeitung" eine Beilage in arabischer Sprache, die den Flüchtlingen der Stadt wichtige Informationen lieferte. Der Online-Ableger der ARD-Tagesschau hält seit Anfang September eine interaktive Karte bereit, die
einen Überblick über Flüchtlings-Hilfsprojekte liefert. Zuschauer und Nutzer sind aufgefordert, Informationen zu ergänzen, auch die Moderatoren der "Tagesschau"-Sendung animieren dazu. Kann man da bereits von einer "Kampagne" sprechen?

"Das Fatalste überhaupt". Alan Posener, Korrespondent für Politik und Gesellschaft der eher konservativen Zeitungen "Die Welt" und "Welt am Sonntag", sagt im Gespräch mit EDITO+KLARTEXT, sich in der jetzigen Situation mit einer Sache gemein zu machen, sei "das Fatalste überhaupt". Eine "einseitige Parteinahme" rufe heutzutage massive "Reaktionen in den sozialen und asozialen Medien"  hervor.

Medien hätten die "Verantwortung, Stimmungen zu beeinflussen", sagt hingegen Anja Reschke. Die Berichte über rechtsextreme Hetze und Anschläge in ostdeutschen Städten seien "mitentscheidend" dafür gewesen, dass Anfang September die mittlerweile oft bemühte deutsche  Willkommenskultur entstanden sei. Da "die Hilfsbereitschaft politisch nicht verordnet" war, müsse sie etwas mit der Berichterstattung der Medien zu tun haben.

Aber man könne ohnehin in vielen Fällen vorher nie wissen, was Beiträge auslösten, sagt Reschke. "Zeigt man überfüllte Heime, besteht die Gefahr, die "Das Boot ist voll"-Ideologie der Konservativen zu stärken; solche Bilder könnten aber auch Bürger zur Hilfe animieren." Sie plädiert einerseits
dafür, "nicht immer nur zu lamentieren, etwa über fehlenden Wohnraum für
Flüchtlinge, sondern auch über Projekte zu berichten, die zeigen, dass Integration gelingenkann". Andererseits müsse man auch berichten, wenn sich in Unterkünfte Flüchtlingen prügelten.

Beiträge über derartige Vorfälle begannen in den bundesdeutschen Medien
Ende September zuzunehmen. Parallel kippte auch die Stimmung in der Bevölkerung. Anfang Oktober sagten in einer von der ARD in Auftrag gegebenen Umfrage 51 Prozent der Deutschen, sie hätten "Angst" davor, "dass so viele Flüchtlinge zu uns kommen" – eine Steigerung von 13 Prozent
innerhalb eines Monats.

Pauschale Einschätzungen zu Tendenzen in der Berichterstattung hält Alan Posener von der "Welt" für nicht zielführend. Wer von "den Medien" spreche, begebe sich "formal" auf den Standpunkt jener aus dem rechten Milieu, die "Lügenpresse" skandieren. Schaue man sich die Leitartikel an, die in seiner Zeitung zum Thema Flüchtlinge erschienen, werde man "nicht nur die eine Position finden, die mit einer Ex-cathedra-Haltung, die heute ohnehin nicht mehr funktioniert, verkündet wird". Vielmehr gebe es mehrere "zugespitzte
Positionen innerhalb eines relativ breiten Spektrums dessen, was im weitesten
Sinne bürgerlich ist".

In der politisch ähnlich ausgerichteten FAZ ist der  Binnenpluralismus geringer ausgeprägt. Hier dominieren Redakteure und Autoren, die für eine nationale Abschottung plädieren, dabei aber offen  lassen, welche Form der Gewalt sie für opportun halten, um die Grenze zu sichern. Diese Journalisten "gerieren sich als Verwalter der Rationalität, sind aber nur Propheten der Angst", meint der Zeit-Online-Kolumnist Fischer, Richter am  Bundesgerichtshof in Karlsruhe.

Radikale Transformation. Unter den grossen Medien in Deutschland bietet "Die Zeit" ein relativ breites Spektrum von Positionen. Die Flüchtlinge seien "vielleicht die wahren politischen Subjekte unserer Zeit, die uns bis auf  Weiteres mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht daran erinnern, dass es keine Lösung geben wird, die nicht eine radikale Transformation unseres
Wirtschaftssystems bedeutet", schrieb dort Anfang September der Philosoph
und Publizist Armen Aveanessian. Solche grundsätzlichen Analysen, sonst in
den etablierten Medien schon lange nicht mehr en vogue, haben freilich den naturgemässen Nachteil, dass sie kurzfristig wenig hilfreich sind. Das gilt auch für Hinweise, etwa auf die Notwendigkeit der Bekämpfung der Ursachen "vor Ort": Dass Syrien oder Afghanistan befriedet werden – oder in Eritrea eine parlamentarische Demokratie entsteht –, ist nicht absehbar.

Vorerst wäre es der Glaubwürdigkeit der Journalisten vielleicht zuträglich, wenn sie  demütig genug wären, ihre Ratlosigkeit einzugestehen. Auch die ARD- Kommentatorin Reschke meint: Das Publikum spüre, dass jene Journalisten, die vorgeben, Lösungen präsentieren zu können, "auch nicht weiterwissen".
René Martens ist Journalist in Hamburg.


Verständnis und Kritik
Der "Blick" wirbt für Verständnis für die Flüchtlinge. Das Schweizer  Fernsehen sammelt via Glückskette Geld für Flüchtlinge, unterstützt von Exponenten der Info-Redaktionen. In Sendungen der ARD treten Personen mit "Refugees welcome"-Shirts auf. Reporter, die an Grenzstationen
über die eintreffenden Flüchtlinge berichten, kaufen für die Flüchtlinge
spontan Lebensmittel, weil sie vom Elend überwältigt seien – und werden damit zu parteilichen Akteuren. Die NZZ kritisiert einen "Überbietungswettbewerb um Empathie und Willkommenseuphorie",
"anwaltschaftlichen Journalismus" zugunsten der Flüchtlinge und "dozierende, moralisierende Moderationen". Die skeptische Nachfrage, die
Fairness bei der Präsentation unterschiedlicher Meinungen und die analytische Distanz kämen dabei zu kurz.

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