Das tote Kind am Strand. Einzelne Bilder aus dem Flüchtlingselend sollen die Öffentlichkeit mehr beeinflusst haben als alle anderen Infos. Aber genau diese Bilder sind unter den Medienschaffenden umstritten.
Von Ulla Autenrieth
Es gibt Bilder, die uns mehr bewegen als andere. Zuletzt ging das Fotos
des toten dreijährigen Aylan Kurdi um die Welt. Während beispielsweise britische Medien das Foto ohne Umschweife abbildeten, geschah dies im deutschsprachigen Raum nur zögerlich. Gefunden wurde ein scheinbarer Kompromiss: Zu sehen war selten das Foto, auf dem der Junge einsam in der Brandung der Tourismushochburg Bodrum lag, sondern jenes, auf dem ihn der türkische Polizist vom Strand trug.
Doch dies ist nicht das erste Foto eines Kindes, das weite Teile der Welt im Innersten berührt hat. Es stellt sich die Frage: Was dürfen, was müssen Medienschaffende ihrem Publikum für Bilder zumuten, wo liegt die Grenze?
Bilder ersetzen Texte nicht
Die Phrase "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte" stimmt nur teilweise. Tod durch Ertrinken gehört zu den häufigsten Todesursachen bei kleinen Kindern, doch kein anderes Foto eines ertrunkenen Kindes am Strand hätte eine derart heftige Reaktion ausgelöst wie jenes aus Bodrum. Es sind der Kontext und der Entstehungszusammenhang des Bildes, was es so bedeutsam macht. Diese sind essenziell. Ohne um die Umstände zu wissen, verfängt die Wirkung des Fotos weit oberflächlicher.
Hierdurch verdeutlicht sich die bedeutungsvolle Wechselbeziehung zwischen einem Bild und den es rahmenden schriftlichen Texten. Ein schriftlich ausformulierter Artikel überzeugt idealerweise durch seine präzise Darstellung und seine argumentative Tiefe. Doch dies ist zugleich eine Schwäche, denn beides verlangt Zeit und den Willen zur Kenntnisnahme. Bilder hingegen sind sogenannte wahrnehmungsnahe Zeichen, sie berühren uns unmittelbar, sprechen uns auf ganz direkte Art an. Ein konzentriertes Lesen eines Textes, vielleicht in kleiner Schrift mit komplizierten Worten, ist nicht erforderlich. Bleibt nur Zeit für einen kurzen Blick, so erschliesst sich ein Bild (zumindest scheinbar) schneller, effektiver.
Auch wenn dies nicht bedeutet, dass es in der Komplexität seiner Bedeutung automatisch einfacher zu verstehen ist. Doch dem ersten Eindruck eines Bildes kann man sich nicht entziehen: Was einmal erblickt wurde, ist nicht mehr ungesehen zu machen, ein Nicht-wahrnehmen in Gegensatz zu einem schriftlichen Text fast unmöglich.
Was berührt uns gerade an diesem Bild?
Das Foto des toten Jungen am Strand: Es ist gerade nicht die offensichtliche Dramatik seines Lebensendes, die erkennbar ist. Vielmehr sehen wir einen kleinen Jungen, wie er in unserer Nachbarschaft leben könnte. Gekleidet in Turnschuhe, die erahnen lassen, welch ein fröhlicher und lebendiger Junge er war. Vielleicht lässt sich dieses Innehalten des Blicks mit Roland Barthes’ Begriff des ‚"Punctums" am treffendsten umschreiben.
Vor Aylan Kurdi gruben sich bereits andere Bilder von Kindern in Krisensituationen in unser visuelles Gedächtnis ein. Zu nennen sind hier das Foto des Napalm-Mädchens aus Vietnam, das vor einem Bombenangriff flüchtet, oder das afghanische Mädchen, dem grausam Nase und Ohren
abgetrennt wurden.
Beide Fotos waren in gewisser Weise ästhetisiert, durch die Schwarzweiss-Darstellung das erste, durch seine würdevolle Inszenierung auf dem Cover des "Time Magazine" das zweite. Für beide Mädchen gab es letztlich eine verhältnismässig positive Wendung ihres Schicksals, nicht zuletzt aufgrund ihrer weltbekannten Fotos. Dies ist für Aylan Kurdi ausgeschlossen.
Das Bild eines tragisch zu Tode gekommenen Kindes berührt uns im Innersten. Es ist das Wissen darum, dass es jemanden zutiefst Unschuldigen getroffen hat. Es ist das Wissen darum, dass dieses Leben gerade erst begonnen hat. Es ist das Wissen darum, das es so nicht hätte kommen müssen.
Schuld ist kein tragischer Unfall, keine unvermeidliche Erkrankung, sondern allein die schreiende Ungerechtigkeit des falschen Geburtsortes, die Tatenlosigkeit der scheinbar zivilisierten Welt. Wo ein junger Mann auf der Flucht dem Verdacht ausgesetzt ist, möglicherweise selbst einmal auf Seiten der Unterdrücker gestanden zu haben, wissen wir um die Unschuld eines Kindes.
Zeigen oder nicht?
Um die Frage, ob man derartig explizite Bilder zeigen darf oder nicht, tobt eine emotionale Diskussion. Befürworter wie Gegner verweisen auf ethische Gründe. Ein Punkt, der in der Debatte bislang nicht vorkam, ist die Überlegung, wer warum welche Forderungen stellt. Darunter gibt es nachvollziehbare Bedenken. Etwa die Befürchtung, der schnelle Schrecken des Bildes wirke nur kurz und isoliert, ohne das eigentliche Thema in seiner Komplexität darzustellen. Oder die Begründung der FAZ-Redaktion, das Foto würde durch seine Veröffentlichung als Mittel politischer Manipulation missbraucht.
Doch die, die sich kritisch äussern, sind vor allem JournalistInnen vor ihren Laptops, während sie in klimatisierten Büros ihren frisch gebrühten Kaffee geniessen. Und es sind von den Möglichkeiten ihres neuen Smartphones gestresste Facebook- und Twitter-User, die um ihren nächtlichen Schlaf in ihren warmen Betten fürchten. Fragt man die unmittelbar Betroffenen hingegen selbst nach ihrer Meinung, äussern sie dezidiert den Wunsch,
dass ihre Schicksale auch in Bildern erzählt werden. "I want the whole world to see" ,sagte Abdullah Kurdi in einem Interview, angesprochen auf das Bild seines Sohnes.
Wegschauen ist im Zweifelsfall einfacher, das Zeigen solcher Bilder schürt Ängste und provoziert Emotionen. Doch es geht nicht darum zu schockieren oder voyeuristische Skandallust zu befriedigen. Das Foto des kleinen Aylan Kurdi ist hierfür das beste Beispiel. Es ist gerade die friedliche Ruhe des Fotos im Kontrast zu seiner dramatischen Entstehungsgeschichte,
die derart berührt.
Emotionen allein genügen nicht
Aber nur Betroffenheit auszulösen ist nicht ausreichend. Deswegen dürfen Bilder nicht allein für sich stehen. Überschriften müssen kontextualisieren, begleitende Artikel aufklären, Zusammenhänge erläutern, Geschehnisse einordnen – dies ist die zentrale Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten. Der Arbeitsauftrag an Medienschaffende lautet: informieren und Missstände aufzeigen.
Doch das Verb "aufzeigen" muss hier sowohl in seiner bildbasierten wie in seiner schriftbasierten Bedeutung verstanden werden. Erst durch die sich wechselseitig ergänzende mediale Herangehensweise erschliesst sich die volle Dimension des Gegenstands. Deswegen: Wo Menschen alles riskieren, ist nicht wegschauen das Mindeste. Niemand soll sagen können, man konnte sich nicht vorstellen, wie dramatisch die Situation war.
Ulla Autenrieth ist Medienwissenschafterin und arbeitet am Medienwissenschaftlichen Institut der Universität Basel.
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