Die Corona-Pandemie ist in den Redaktionssitzungen ein Dauerbrenner. Das Bedürfnis nach seriösen Informationen und Fakten ist riesig. Hat das Virus den Wissenschaftsjournalismus gestärkt?
Von Alain Meyer
Das bis zum Überdruss wiederholte Coronavirus-Thema wird wohl das Verdienst haben, neue investigative, hoffnungsvolle Wege für den Wissenschaftsjournalismus geöffnet zu haben. Diesem ging es wirtschaftlich zuletzt immer schlechter. Denn so viel wie in den letzten Monaten schrieben Schweizer Medien noch nie über Wissenschaft. Um den Heisshunger der zu Hause eingesperrten Leserschaft zu stillen, erwies sich das wissenschaftliche Storytelling regelrecht als Glücksfall.
«Wissenschaftsthemen haben direkt oder indirekt bis zu 80 Prozent unserer Inhalte geprägt», schätzt Frédéric Julliard, Chefredaktor der Tribune de Genève. Es muss allerdings unterschieden werden zwischen wissenschaftlichen Informationen und solchen, die sich auf das gesellschaftliche Leben, beispielsweise die Bewegungsfreiheit, auswirken. «Streng mit dem Virus verbundene Themen machten nur einen Drittel oder einen Viertel der 80 Prozent aus», relativiert Julliard.
Die Pandemie hat vor allem zwei Themenbereiche gestärkt: «Erstens die Wissenschaft und die Medizin und zweitens den Datenjournalismus.» Die Speicherung und Verarbeitung von Daten hat zur Entschlüsselung der Kurven des SARS-CoV-2 beigetragen und Fort- und Rückschritte aufgezeigt.
Offenkundig fehlende Mittel. Als die Gesundheitskrise im März und April ihren Höhepunkt erreichte, «haben die Besucherzahlen auf unserer Homepage um 200 Prozent zugenommen», sagt Frédéric Julliard. Er schätzt, dass «das Interesse für Wissenschaftsthemen nach der Pandemie verblassen, aber nicht verschwinden wird.» Bei der Tribune geniesst das Thema seit Jahren immer weniger Aufmerksamkeit: «Doch wir werden den eingeschlagenen Weg weitergehen.»
Frédéric Julliard ist sich bewusst, dass die Pandemie das breite Publikum noch eine Weile fesseln wird, weshalb er noch mehr popwissenschaftliche Inhalte möchte. Dazu fehlen ihm aber die finanziellen Möglichkeiten und das Netzwerk. «Wir profitieren weder von privilegierten Verbindungen noch schreiben wir Publireportagen für Forschungszentren», bemerkt er.
Die Forschungstätigkeiten am Genfer Universitätsspital (HUG), eine landesweit am stärksten in die Behandlung von Covid-19-Patienten eingebundene Einrichtung, «verfolgen wir zwar, jedoch ohne privilegierten Zugang zu den Erkenntnissen». Das Gleiche gilt für die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die ihren Sitz in Genf hat. Deren Aussagen werden zwar verbreitet, jedoch «mit kritischen Beobachtungen ergänzt».
Ein Novum bei Swissinfo. Unter den Medien, die ihre Besucherzahlen explodieren sahen, brach SWI swissinfo.ch in Bern alle Rekorde. «Unser zehnsprachiges Informationsangebot war für Migrantinnen nützlich, die keine Landessprache sprechen», präzisiert Larissa M. Bieler, Chefredaktorin von SWI, die zur SRG gehört. Als die Krise dem Höhepunkt zutrieb, gingen die Zahlen rasant nach oben: «Im Vergleich zur Vorjahresperiode haben sich die Zahlen fast verdreifacht. Zudem verweilten die Benutzerinnen siebenmal länger auf unserer Seite.»
«Im Vergleich zur Vorjahresperiode haben sich die Zahlen fast verdreifacht.»
Gemäss den Zahlen von Net-Metrix, der unabhängigen Schweizer Instanz für Internet-Nutzungsforschung, ist die Zahl der Besucher bei swissinfo.ch von zwei Millionen im März auf 12 Millionen gestiegen. Gemäss der Leistungsvereinbarung zwischen der SRG und dem Bund «werden inländische, wissenschaftliche Innovationen, die heute und morgen eine internationale Resonanz haben, bei uns prioritär behandelt», erklärt Larissa M. Bieler.
Swissinfo.ch verschickt einmal pro Monat einen Newsletter mit ausgewählten Artikeln zum Thema Wissenschaft – manchmal sogar auf Chinesisch. Und seit diesem Frühling schreibt die irländische Autorin Clare O’Dea ein Factsheet auf Englisch zu den wissenschaftlichen Entwicklungen und Fortschritten, die sie in unserem Land beobachtet.
Unterbewerteter Journalismus. Steht der journalistischen Abdeckung wissenschaftlicher Innovationen eine rosige Zukunft bevor? «Ein Bericht von uns zum Einfluss von Covid-19 auf den Antibiotika-Markt wurde in mehreren wissenschaftlichen Zeitschriften übernommen», erklärt Dale Bechtel, Mitglied der Chefredaktion bei SWI. Von den Recherchen der Autorin Jessica Davis Plüss sprach sogar das Global Investigative Journalist Network (GIJN).
Die Gesundheitskrise hat aber auch gezeigt, wie schwierig es ist, wissenschaftliche Themen mit dem erforderlichen Fachwissen zu behandeln. «Bis jetzt wurde der Wissenschaftsjournalismus unterschätzt, in Zukunft muss und wird er an Gewicht gewinnen», sagt Larissa M. Bieler.
Bei SWI wurde der Bereich Wissenschaft bereits gestärkt. «Wir diskutieren derzeit mit wissenschaftlichen Institutionen, um künftig noch mehr Inhalte teilen und vereinfachen zu können und uns so als attraktiver Partner zu positionieren», so Dale Bechtel.
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